Im Hinblick auf die vom Bund erzwungene Einbürgerung der «Heimatlosen» wurden Fahrende aufgegriffen und polizeilich registriert. 1852-53 entstanden die schweizweit ersten Fahndungsfotos durch den Berner Fotografen Carl Durheim. Bild: zvg

Der Findling: Die Geschichte der Balmers von Worb

«Von Worb?» Meine Antwort auf die Frage nach meinem Heimatort löst bei Personen, welche etwas von Familienforschung verstehen, regelmässig Verwunderung aus. Die Balmers kommen doch von Wilderswil. Oder von Mühleberg. Oder von Laupen. Aber Balmer von Worb, das haben sie noch nie gehört. Die Verwunderung kommt nicht von ungefähr. Denn dass es Balmers mit Heimatort Worb gibt, geht zurück auf eine eigenartige Geschichte, welche vor mehr als 200 Jahren in einem Stall bei Oberbalm ihren Anfang nahm.

Ein Kind wird gefunden
In der Nacht auf den 20. Horner (Februar) 1804 fanden die Bauersleute auf dem Hof von Christen Althaus in Oberbalm im angebauten Stall ein Neugeborenes. Wie in solchen Fällen üblich, wurde das Ereignis der Landsassenkorporation in Bern gemeldet. Dort nahm sich Landsassenalmosner (Armenpfleger) Albert Bizius  (nicht zu verwechseln mit Albert Bitzius alias Jeremias Gotthelf, Anm. d. Red.) pflichtgemäss der Aufgabe an, sich um das weitere Schicksal des Findlings zu kümmern. Dieser wurde nach Bern gebracht und zum Stillen einer Amme übergeben. Schon eine Woche später, am 26. Februar, wurde er in der Berner Heiliggeistkirche auf den Namen Rudolf Balmer getauft. Ausschlaggebend für die Wahl des Nachnamens war, so erzählte es mir mein Grossvater, der Name der Gemeinde, in welcher man ihn aufgefunden hatte – Oberbalm. Als Entschädigung für ihren Dienst am Säugling erhielt die Amme ein Pfund, nach heutigem Sprachgebrauch einen Franken. Das entsprach etwa dem Gegenwert von 10 Pfund Brot.

Die verleumdete Magd
Natürlich führte das Auffinden des Kindes zu Spekulationen darüber, wer die Eltern des Findlings sein könnten. Für die Landsassenkammer war die Frage schon deshalb relevant, weil sie daran interessiert war, die Kosten für die Platzierung und Betreuung des Kindes auf dessen Eltern  zu überwälzen. Für den mit den entsprechenden Abklärungen betrauten Landsassenalmosner Bizius sah es diesbezüglich zunächst gut aus. Eine nicht namentlich erwähnt werden wollende Person sagte ihm gegenüber aus, Mutter des Kindes sei die junge Magd Maria Sebel und Vater – wie könnte es anders sein – ihr Meister, der ebenfalls in Oberbalm ansässige Bauer Hieronimus Hofmann. Landsassenalmosner Bizius waltete seines Amtes und bestellte die junge Magd zum Verhör vor der Landsassenkammer nach Bern. Man kann sich vorstellen, in welcher Gemütsverfassung die 18 Jahre junge Frau den Weg in die Stadt hinter sich brachte.

Genugtuung
Immerhin waren die gnädigen Herren auf ein korrektes Verfahren bedacht. Eine Hebamme wurde beauftragt zu untersuchen, ob die junge Magd eine Geburt hinter sich habe. Nachdem sie ihres Amtes gewaltet hatte, sagte sie unter Eid aus, nein, Maria habe kein Kind geboren. Nach diesem Bescheid zeigten sich die Herren von der Kommission sichtlich empört über das Unrecht, welches Maria widerfahren war. Sie sprachen ihr eine Genugtuung von 2 Pfund zu und erklärten, sie würden dem Pfarrer ihrer Gemeinde, Herrn Meyer, einen Brief zukommen lassen. Das Schreiben wurde tatsächlich verfasst und liess in seiner Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig: … das ausgestreute Gerücht dass nemlich die bei dem Muss Hoofmann zu Oberbalm im Dienst stehende Landsassin Maria Sebel, die Mutter des den 20. vorigen Monats in dem Stall des Christen Althaus zu Schneitershaus ausgesetzt gefundene Knäblein seye die gnädigen Herren der Landsassenkammer befremdet und mit gerechtem Unwillen erfüllt hat. Ebenso freut es dieselben, Eure Wohlerwürden und Vorgesezten der Gemeind Oberbalm den Bericht mittheilen zu können, dass nachdem die Maria Sebel durch eine beeidigte hiesige Hebamme genau untersucht und sonsten in alle Wege verhört worden ist, die auffallendsten Beweise hervorleuchten, dass diese Person durchaus schuldlos und die ergangenen obigen Gerüchte grundfalsch und verleumderische infame Erdichtungen seyen, durch welche man den ehrlichen Ruf dieser jungen Landsassin zu untergraben gesucht hat. In deme die Kammer zur gänzlichen Entladnis der Maria Sebel Euch von obigem Notiz ertheilt übersendet sie Euch im Einschluss eine kleine Steuer für die Sebel den Betrag von 2 Pfund mit freundlichem Ersuchen … solchen zur Aufmunterung auszuhändigen.
Auch wenn er nun aufwärts führte, der Heimweg dürfte Maria um einiges leichter gefallen sein als der Hinweg.

Mit diesem Brief, unterschrieben von Schultheiss von Tavel und Staatsschreiber Stapfer, wurde dem Landsassen Rudolf Balmer die Erlaubnis zur Heirat mit Anna Aeschlimann erteilt. Das Dokument befindet sich heute im Staatsarchiv in Bern. Bild: U. Balmer


Bei Familie Jegerlehner
Nachdem sich die Hoffnung, die leiblichen Eltern zu finden und damit die anstehenden Kosten auf diese überwälzen zu können, zerschlagen hatte, musste sich Almosner Bizius selbst um das weitere Schicksal des Kindes kümmern. Wie in solchen Fällen üblich, wurde eine Platzierung in gebührendem Abstand vom Fundort angestrebt. So wurde der kleine Rudolf bei Bendicht Jegerlehner, wohnhaft im Kirschenberg in der Gemeinde Biglen, in Pflege gegeben. Vater Bendicht war Weber, ein damals in der Gegend verbreiteter Beruf. Er und seine Frau hatten selbst sechs Kinder, diese waren aber schon deutlich älter als der kleine Ruedeli. Drei Jahre später nahm das Ehepaar Jegerlehner ein weiteres Verdingkind bei sich auf, den Knaben Johann Alexander Feucht. Im Gegensatz zu unserem Findling war zumindest die Identität seiner ebenfalls zur Landsassengemeinde gehörenden Mutter der Kammer bekannt – und dies nur zu gut. Denn mit ihrem – nach damaliger Lesart liederlichen – Lebenswandel beschäftigte sie das Gremium immer wieder.

Soweit aus den Quellen ersichtlich, war Rudolf Balmer bei Jegerlehners gut aufgehoben. Die Auswirkungen der politisch und wirtschaftlich katastrophalen Zustände – die Schweiz litt unter der Besetzung durch Frankreich, im Jahr 1816 kam eine durch den Ausbruch des Vulkans Tambora im fernen Indonesien und eine weltweite Abkühlung bedingte Missernte dazu – dürfte aber auch er zu spüren bekommen haben. Der von der Landsassenkammer verfolgten Politik, aus den Landsassen sich selbst versorgende Staatsbürger zu machen, entsprechend, wurde Rudolf ermöglicht, bei seinem Verdingvater eine einjährige Lehre als Weber zu absolvieren. Im Jahr 1820 wurde Rudolf zusammen mit seinen Altersgenossinnen und -genossen vom Bigler Pfarrer Alb. Rudolf Sprüngli konfirmiert.

Der lange Weg zum Eheschluss
Irgendwann nach der im Jahr 1821 abgeschlossenen Lehre – der genaue Zeitpunkt ist nicht bekannt – zog der junge Mann in die Gemeinde Worb. Urkundlich ausgewiesen ist, dass er dort als «Krämer und Fabrikant» tätig war. Hier lernte er auch seine spätere Ehefrau, die um drei Jahre ältere Anna Aeschlimann, kennen. Deren Eltern waren ein Jahr vor ihrer Geburt aus einem abgeschiedenen Winkel der Gemeinde Trub nach Richigen bei Worb gezogen.

Der Weg bis zum beabsichtigten Eheschluss sollte sich als lange und beschwerlich erweisen. Ein Grund dafür war wohl eine im Jahr 1826 von der Regierung erlassene Verordnung, welche die Verheiratung junger männlicher Landsassen nur noch bei vorherigem Erwerb eines «Burgerrechts» gestatten wollte. Ziel dieser Vorgabe war, der Umwandlung des Landsassenstatus in ein Gemeindebürgerrecht Schub zu verleihen. Ein Vorgehen mit wenig Aussicht auf Erfolg, denn zum einen fehlten den meisten Landsassen die Mittel für den Erwerb eines Gemeindebürgerrechts und zum andern war die Aufnahmebereitschaft bei den Gemeinden gering bis inexistent. Als fünf Jahre später die Liberalen die Macht übernahmen, wurde diese nutzlose Bestimmung aufgehoben. Aber damit waren für Anna und Rudolf noch nicht alle Hindernisse auf dem Weg zur gemeinsamen Zukunft weggeräumt. Denn für die Landsassenkommission stellte sich die Frage, ob der angehende Bräutigam nicht vor dem Eheschluss die für ihn aufgewendeten finanziellen Mittel zurückerstatten müsse. Wegen deren grundsätzlicher Bedeutung beschloss die Kommission, die Frage der Regierung zu unterbreiten. Immerhin beantragte sie in ihrem Schreiben, auf eine Rückforderung zu verzichten. Offenbar kam die Berner Regierung diesem Anliegen gerne nach: «Auf der geehrten Herren Antrag vom 20. Oktober laufenden Jahres hat der Regierungsrat in Betracht der bisherigen musterhaften Aufführung des Findlings Rudolf Balmer geb. 1804 keinen Anstand genommen, Sie hochgeehrte Herren zu ermächtigen, demselben die Bewilligung zur Ehe mit Anna Aeschlimann von Trub zu erteilen und ihm die Rückerstattung der genossenen Unterstützungen (im Betrag von 727 Pfund fünf Batzen) zu erlassen …

Unterschrieben wurde dieser «Hochzeitsbrief» von 1835 – er befindet sich heute im Berner Staatsarchiv – von Schultheiss Franz Carl von Tavel und Ratsschreiber Johann Friedrich Stapfer.

Damit war der Weg zur Vermählung von Anna und Rudolf definitiv frei, unmittelbar nach dem Entscheid der Berner Regierung liess sich das Paar schon Ende 1835 in der Kirche von Steffisburg trauen. Der Ort war kaum zufällig gewählt, amtete doch hier nun Pfarrer Sprüngli, derjenige, welcher Rudolf seinerzeit in Biglen konfirmiert hatte. Mit ihrer Verheiratung verlor Anna Trub als Heimatort und wurde zur Landsassin.

Familienleben und früher Tod
Nach ihrer Heirat lebten Anna und Rudolf auf einem Heimet in der Schürmatt in Richigen, wohl der Ort, an welchem Anna aufgewachsen war. Von ihren vier Kindern erreichten drei das Erwachsenenalter: Das erste, Johannes, ist mein Urgrossvater. Ihm folgte ein Mädchen, es wurde nach der Mutter Anna getauft. Und das dritte, wieder ein Knabe, erhielt den vom Vater getragenen Namen Rudolf.

Die Familie lebte offenbar nicht nur von den Erträgen des von ihnen bewirtschafteten Heimets. Vater Rudolf betrieb auch Handel und dies offenbar erfolgreich. Bei einer nach seinem Tod durchgeführten Erhebung stellten die Behördenvertreter ein für eine Landsassenfamilie aussergewöhnliches Vermögen von 3000 Pfund fest. Am 7. April 1845 verstarb Rudolf Balmer im Alter von erst 41 Jahren. Der Tod muss unerwartet eingetroffen sein, hatte der Verschiedene doch kurz zuvor noch ein Grundstück, die Simbelmatte, gekauft. Am genau gleichen Tag verstarb übrigens der Onkel seiner Frau, Christian Aeschlimann. Denkbar, dass sie zusammen Opfer eines Unfalls geworden waren.

Auf diesem Bauernhof in der Gemeinde Oberbalm wurde in der Nacht vom 19. auf den 20. Februar 1804 ein Säugling aufgefunden. Eine Woche später wurde er in der Berner Heiliggeistkirche auf den Namen Rudolf Balmer getauft. Bild: A. Blatter


Einbürgerung dank Bundesverfassung
Den Durchbruch für die Verleihung des Bürgerrechts brachte die 1848 in Kraft getretene Bundesverfassung. In Art. 56 wurde bestimmt: «Die Ausmittlung von Bürgerrechten für Heimatlose und die Massregeln zur Verhinderung neuer Heimatloser sind Gegenstand der Bundesgesetzgebung.» Das «Bundesgesetz die Heimatlosigkeit betreffend vom 3. Dezember 1850» schrieb den Kantonen vor, dass sie die Heimatlosen in den Gemeinden einzubürgern hatten. In seinem Ausführungsgesetz vom 8. Juni 1859 – die Umsetzung der bundesgesetzlichen Vorgabe war den Kantonen überlassen – legte der Kanton Bern die für die Verteilung der Heimatlosen und Landsassen massgeblichen Kriterien fest. Diesen zufolge hatte zunächst jede Gemeinde einen Heimatlosen oder Landsassen aufzunehmen. Die verbleibenden Personen sollten nach Massgabe von vorhandenem Burgergut und Zahl der Ortsburger auf die Gemeinden verteilt werden.

Dass Anna und ihre Kinder das Worber Bürgerrecht erhielten, war aufgrund ihres bisherigen Aufenthalts naheliegend. Gemäss Schlussbericht der Regierung vom 15. April 1863 wurden im Kanton Bern gegen 4000 Personen eingebürgert. In Worb betraf die per Oktober 1861 erfolgte Einbürgerung 11 Personen:

– Anna Balmer und ihre drei Kinder
–Johann Alexander Feucht (Berufsangabe Fabrikant), dessen Frau sowie Tochter Elisabeth
– die vierköpfige Familie des Schuhmachers Spitznagel.

Darum, und weil sich die Nachkommen von Anna und Rudolf munter fortpflanzten, gibt es auch heute noch Balmer mit Heimatort Worb. Im Schweizerischen Familiennamenbuch ist das Bürgerrecht der Balmer von Worb heute noch mit einem * und dem Jahr 1861 versehen, was Einbürgerungen aufgrund von speziellen gesetzlichen Umständen kennzeichnet.
UELI BALMER

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