Dachstock auf dem Areal der Schlossmühle. 2012 liess die Familie Aeberhard den Dachstock des Wohnhauses an der Mühlestrasse 35 dendrochronologisch untersuchen. Dabei stellte sich heraus, dass dieser um 1856 erbaut wurde, wobei auch hier wie beim Bürgenstock ältere Hölzer verwendet wurden, so der Riegständer von 1811. Bild: S. Mathys

Jahrringe: Der Kalender im Baum

Beim Spaziergang durch den Wald fallen bei gefällten Bäumen die Jahrringe auf. Beim genaueren Hinschauen lässt sich erkennen, dass sie nicht immer gleich dick sind. Und genau damit arbeiten Spezialistinnen und Spezialisten zur Datierung von Hölzern.

Die Geschichtsforschung stützt sich in erster Linie auf schriftliche Quellen. Aber es gibt auch andere Quellen, um zu historischen Erkenntnissen zu kommen, z.B. mündliche Überlieferungen, Ortsnamen, Objekte in Museen, archäologische Ausgrabungen. Eine dieser nicht-schriftlichen Quellen ist die Dendrochronologie – die Analyse von Baumringen. Der Begriff kommt aus dem Griechischen und besteht aus drei Teilen: to dendron heisst Baum, ho chronos ist die Zeit und he logia bedeutet die Lehre oder Wissenschaft – zusammen also die Wissenschaft von der Holzdatierung. 

Was ist Dendrochonologie?
Eine verholzende Pflanze, zum Beispiel ein Baum, entwickelt jedes Jahr einen Jahrring, der direkt unter der Rinde liegt. Im Laufe der Zeit wird der Baum dicker und höher. Betrachtet man die Reihenfolge der Jahrringe, fällt auf, dass sie unterschiedlich breit bzw. dick sind. Diese Schwankung ist nicht zufällig, sondern das Ergebnis äusserer Einflüsse wie Standort, Meteorologie, Bodenbeschaffenheit, Meereshöhe usw. Da Bäume verschiedene Lebenszeiten haben, kann man mit Hilfe der Jahrringe in die Vergangenheit zurückgehen, indem man die Jahrringe eines Baumes zählt und sie mit anderen während einer gewissen Dauer gleichzeitig gewachsenen, aber älteren Bäumen überlappt. Auf diese Weise erhält man eine Abfolge von Jahrringbreiten, die immer weiter in die Vergangenheit zurückreicht – es ist eine Reise immer tiefer in die Geschichte.

Die Dendrochronologie ist eine relative junge Wissenschaft. Sie wurde vom amerikanischen Astronomen Andrew Ellicott Douglass (1867-1962) vor etwa 100 Jahren entwickelt. In der trockenen und wüstenhaften (ariden) Zone von Arizona wächst die Grannenkiefer (Bristlecone Pine), die ein Alter von mehreren Tausend Jahren erreichen kann. Douglass hat das Wachstum dieses Baumes in Verbindung mit den Sonnenaktivitäten der letzten Tausend Jahre untersucht. Dabei fiel ihm auf, dass die Dicke der Jahrringe gleichzeitig gewachsener Bäume ähnliche Schwankungen bezüglich der Breite zeigen. Diese Entdeckung von Douglass war die Geburtsstunde der Dendrochronologie. Douglass hat mit einer einzigen uralten Grannenkiefer eine Chronologie von 5000 Jahren erhalten.

In Europa erforderte die Entwicklung einer solchen Reihe mit der Holzart Eiche die Mitwirkung von ca. 20 Dendrolabors während mehr als 30 Jahren. Dabei wurde Eichenholz aus Flussschottern, Moränen und archäologischen Artefakten, das heisst von Menschen geschaffenen Gegenständen, verwendet. Nach langen Vergleichen der Chronologien verschiedenster Labors in Europa gelang schliesslich eine «Absolutdatierung», das heisst ein genauer Kalender, der das Alter von Eichenholz aus archäologischen Siedlungen zu datieren erlaubte. So konnten beispielsweise in unserem Raum die Pfahlbausiedlungen der Juraseen und des Mittellandes aus der Jungsteinzeit bis in die Eisenzeit (ca. 5500 v. Chr bis 100 v. Chr) aufs Jahr genau datiert werden. Entstehung, Aufgabe, Ausdehnung und Entwicklung der Siedlungen und in einzelnen Fällen sogar die Rekonstruktion von Hausgrundrissen liessen sich so nachweisen. Berühmt sind etwa die Seeufersiedlungen von Auvernier, Twann, Cortaillod und Bevaix.

Die Dendrochronologie verliess rasch den Bereich der Archäologie und wurde in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen die Standarddatierung von Hölzern. Seit der Erfindung der Dendrochronologie lesen die Glaziologen aus den Hölzern in Moränen die Gletscherbewegungen. Die Forstwissenschaften eruieren anhand der Jahrringe die Qualität der Bäume etwa unter Starkstromleitungen sowie bezüglich Umwelteinflüssen wie Abgasen, Bodenverdichtung und Versiegelung oder bezüglich des Zeitpunkts von Drainage und deren Auswirkung auf den Wuchs der betroffenen Bäume. Und Instrumentenhistoriker bestimmen das Alter von Geigen und anderen Streichinstrumenten.

Dendrochronologie als Business
Die Dendrochronologie wurde in der Archäologie für Bodenfunde und in der Denkmalpflege, der Bauernhausforschung sowie im Heimatschutz für die Datierung von stehenden Bauten derart wichtig, dass sie geradezu industriell betrieben wurde. Die Auftragslage schien so gut zu sein, dass sie mich und meine Gattin Kristina bewog, 1978 an der Oberfeldstrasse 13 in Boll ein eigenes Labor aufzubauen, das als Dienstleistungsbetrieb für die oben erwähnten Institutionen arbeitete. Wir betrieben unser Labor ohne Unterbruch unter dem Namen Dendrolabor Egger während fast vier Jahrzehnten und schlossen es 2016 anlässlich unserer Pensionierung.

Anfänglich gab es noch keine Arbeitsinstrumente. Wir mussten zuerst ein Arbeitsgerät entwickeln oder irgendwo auftreiben, das uns erlaubte, die Jahrringe zu bergen, ohne dass die Hölzer zerstört oder geschwächt würden. Wir griffen schliesslich auf den manuellen Zuwachsbohrer zurück, wie ihn die Förster benutzen. Der hohle Bohrer wird von Hand in das Holz gedreht, um dünne Bohrkerne von rund 5 mm Durchmesser zu entnehmen. Mit einer gängigen Schleifbandmaschine können die Bohrer problemlos geschliffen werden, so dass wir für jede «Bohrexkursion» mit perfektem und geschärftem Werkzeug ausrücken konnten. Meine Frau und ich entwickelten uns zu einem perfekten Arbeitsteam. Bis zu unserer Pensionierung analysierten wir Hunderte von Gebäuden. Wir untersuchten vor allem in Bern (Stadt und Kanton), im Kanton Jura, im Kanton Solothurn und im Kanton Zug historische Gebäude aus dem Zeitraum von ca. 800 v. Chr. bis heute. 

Da es zu Beginn unserer Tätigkeit noch keine etablierten Methoden gab, mussten wir lernen, die verschiedensten Holzbearbeitungsmethoden zeitlich und regional einzuordnen. Es war für uns die Phase des «learning by doing». Zum Beispiel: Wann wurden die älteren «stehenden» Dachstöcke aufgerichtet und ab wann wurden die jüngeren «liegenden» Dachstöcke gebaut, die einen ständerfreien, gros­sen Raum, einen Estrich, ermöglichen? Diesen jüngeren, ständerfreien Dachstöcken begegnet man noch heute in zahlreichen Gebäuden, die ein sogenanntes Walmdach oder eine bewegte Dachform zeigen. Solche bewegten Dachlandschaften zeigen sich vor allem bei Villen, Bauernhäusern und anderen grösseren Gebäuden.  Ein schönes Beispiel einer äusserst bewegten Dachlandschaft ist auf dem Zentralschulhaus in Worb zu beobachten. Dieses Gebäude, Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden, hat von seiner Faszination und seiner imposanten Erscheinungsform bis heute nichts eingebüsst.

Dendrochronologische Resultate in der Stadt Bern
Ein weiterer grosser Unterschied bei Dachstöcken ist in deren Aufbau als Sparren- oder als Rafendach. Beim Sparrendach stecken die bis zum First reichenden Hölzer (Sparren) in einer Schwelle (einem querliegenden Balken), die häufig auf der Mauerkrone liegt, wobei das obere Ende des Sparrens mit dem gegenüberliegenden verzäpft ist. Diese Dachform hat keinen Firstbalken. Wogegen das Gerüst eines Rafendachs aus einer First und mehreren Pfetten (Längshölzer) besteht, die als Auflage der Rafen dienen. Rafen sind die geneigt verlaufenden Tragbalken, welche Dachlatten und Dachhaut tragen.

Der Dachstock der französischen Kirche in Bern ist ein solcher Rafendachstock, der von Ost nach West aufgebaut wurde. Dies ist daran zu erkennen, dass die als Rafen verwendeten Hölzer von Ost nach West an Qualität einbüssen. Es scheint, dass im Verlaufe des Dachstockbaus die guten Hölzer Mangelware wurden. Einzig unter dem Dachreiter, dem kleinen, aufgesetzten Dachtürmchen, sind massive Eichen verwendet worden, da der Dachreiter dem Wind und Sturm ausgesetzt ist und besonders stark verankert werden muss. Dendrochronologisch nachgewiesen ist aber, dass er gleichzeitig mit dem Schiffsdachstock entstanden ist. Ein weiteres Phänomen konnte im Chor der französischen Kirche dank der Dendrochonologie entdeckt werden. Wir wurden gerufen, die noch gut sichtbaren Hölzer eines Fachwerks im Chorrund zu datieren. Dabei stellte sich heraus, dass dieses aus der Zeit der Reformation stammt. Es gilt heute als der einzige wissenschaftlich bewiesene Bauteil aus der Zeit der Reformation in der Stadt Bern. Daher musste das Fachwerk zum Ärger des Architekturbüros, das eine Neugestaltung des Chorinnenraumes plante, erhalten bleiben.

Unser Labor wurde in den 1980er Jahren beauftragt, den Dachstock des Zytgloggeturms zu analysieren. Wir beprobten den aus Eichenholz gebauten Dachstock, der aus drei aufeinandergestellten Würfeln besteht. Die auf die Aussenseiten der Würfel gelegten Rafen sind Nadelhölzer und gleichzeitig mit den Eichen verbaut worden. Wir entdeckten bei der Analyse der Bohrproben aus dem Dachstock, dass die letzten Jahrringe der verwendeten Hölzer unvollständig sind, was auf eine Fällung in der Vegetationsphase hindeutet. Damit konnten wir belegen, dass der Zytglogge den damaligen Bernern so wichtig war, dass sie nach dem Stadtbrand von 1406 mit dem Wiederaufbau nicht zuwarteten. Sie schlugen das Holz noch in der Wachstumsphase und verbauten es unverzüglich im Gebäude. Wir konnten auch nachweisen, dass das Astrolabium, die Touristenattraktion mit Uhrwerk und den bewegten Figuren, unmittelbar nach dem Stadtbrand eingebaut wurde.

Worber Jahrringe
In Worb haben wir als prominentestes Haus den unter Schutz stehenden Bürgenstock auf dem Areal der Brauerei (Brauereiweg 2) untersucht. Er wurde gemäss Angabe des kantonalen Bauinventars zwischen 1640 und 1659 vermutlich als Patrizierbau errichtet und diente meinem Urgrossvater Gottfried Egger ab den 1860er Jahren als erste Brauerei. 1984 haben wir den Bau dendrochronologisch untersucht – finanziert von meinem Vater Hans-Rudolf Egger. Demnach erfolgte 1818 eine Renovation des liegenden Dachstocks unter Verwendung älterer Hölzer aus dem 17. Jahrhundert. Alles, was noch in gutem Zustand, also brauchbar war, wurde damals wiederverwendet. Man ersparte sich dabei den mühsamen Balkentransport durch ein enges Treppenhaus in den Dachstock.

Ein weiterer Gebäudetyp, den wir häufig dendrochronologisch analysierten, ist der Speicher als Nahrungslager bei Bauernhöfen. Speicher wurden sehr häufig mit «Helblingen» gebaut. Helblinge sind der Länge nach halbierte Baumstämme, die eine plane, das heisst flache Seite haben, die ins Innere des Speichers zu liegen kam, und eine gewölbte Seite nach aussen. Die blockbauartig aufeinander gestapelten Helblinge ergeben schliesslich die Speicherwände, die aussen meist den letzten vom Baum produzierten Jahrring aufweisen. Die Speicher können so immer aufs Jahr genau datiert werden. In Worb haben wir keine Speicher datiert. Die nächsten von uns untersuchten Speicher sind in Vechigen, Ried bei Schlosswil und in Grosshöchstetten. Obwohl alle drei das gleiche Erscheinungsbild aufweisen, stellte sich heraus, dass sie zu unterschiedlichen Zeiten erbaut wurden. Der in Grosshöchstetten stehende, versetzte Speicher ist bei weitem der älteste. Er geht ins frühe 16. Jahrhundert zurück. Durch die Restaurierung und den neuen Holzschutzanstrich wirkt er heute allerdings bedeutend jünger. Der jüngste der drei ist derjenige von Ried. Er wurde aus Platzgründen beim Bau des Kleezentrums in Bern nach Ried versetzt, ist also ortsfremd. Der Speicher hinter der Pfrundscheune in Vechigen ist bedeutend jünger und geht ins mittlere 18. Jahrhundert zurück.

Baumscheibe, in der die unterschiedlich dicken Jahrringe gut sichtbar sind und die Daten für die Datierung eines Holzes enthalten. Bild: S. Mathys

Die schönsten landwirtschaftlichen Kleinbauten, die wir analysieren konnten, sind die Melkhütten im Berner Oberland. Die Hütten dienten einerseits als Sammelstelle der zu melkenden Kühe und andererseits als Aufbewahrungsort von Bergkäse, der in der unmittelbaren Umgebung hergestellt wurde. Die weit verstreuten Hütten, meist an unwegsamen Orten gelegen, besitzen oft eine Plattform, ähnlich einer Terrasse, was ihnen einen idyllischen Anschein verleiht. Die Plattform ist meist mit einer Ständerkonstruktion mit den aussenliegenden Sparren oder Rafen verbunden. Auf dieser Plattform wird eine Kuh nach der andern gemolken, von Kot gereinigt und mit Goodies gefüttert, damit sie stillhält. Jede dieser Melkhütten besitzt einen Futtertrog, der über die ganze Breitseite der Plattform reicht. Gedeckt wurden die Melkhütten mit Schiefer- oder Schindeldächern. Kaputte Dächer wurden und werden leider selten mit den ursprünglichen Materialien repariert. Sehr oft sind die heute zweckentfremdeten Melkhütten mit Dachpappe, Wellblech oder ähnlich unschönem Material gedeckt. Im Innern findet man in der Regel keinen Käse mehr, sondern eine grosse Ansammlung von Gerümpel jeglicher Art.

An den Hängen von Hollenstein und Aspen in Grindelwald konnten wir über zehn solcher Melkhütten analysieren, deren Alter bis ins frühe 16. Jahrhundert zurückreicht. Sehr viele dieser Melkhütten sind heute verschwunden. Es gibt aber noch genügend mit Lärchenholz erbaute Hütten, die dendrochronologisch geeignet waren, um eine Lärchen-Chronologie aufzubauen. Wir beprobten die Lärchen-Bauteile der Melkhütten mehrmals, um dem rätselhaften Phänomen fehlender Jahrringe bei Lärchen auf die Spur zu kommen. Das Fehlen der Jahrringe bei Lärchen geht auf den Lärchenwickler zurück, einen Schmarotzer, der die Bäume befällt und die Nährstoffe aus den Bäumen zieht. Diese werden dadurch so geschwächt, dass sie keinen Jahrring bilden können. Die Häufigkeit des Lärchenwicklers ist abhängig von meteorologischen Einflüssen. Er bevorzugt warmes und feuchtes Wetter. Daher konnten wir aus den Lärchenringen auch die Wetterentwicklung rekonstruieren.

HEINZ EGGER, Dendrochronologe

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