Vor einem Monat meldeten die Medien, dass auf Ende 2025 die Nadelfilzproduktion der Fissco AG in Enggistein, im Volksmund «Filzi» genannt, eingestellt wird. Die zweite Firma, die Fisolan, soll aber weiterhin die lukrativeren Dämm- und Isolationsstoffe aus Schafwolle herstellen. Ausserordentlich ist das nicht, hat doch die Firma in den letzten 184 Jahren immer wieder ihre Produktionspalette dem Markt angepasst.
Die Worber Filzgeschichte begann 1841 – in Biglen. Der Polizeidiener (nebenamtlicher Ortspolizist) Niklaus Ellenberger begann mit einem Gehilfen, Holzschuhfinken zu produzieren. Um den Tragkomfort in den damals gebräuchlichen Holzschuhen, «Holzböde» genannt, zu erhöhen, schlüpfte man in eine Art Filzpantoffeln aus weissem Wollfilz. Der Neuunternehmer kaufte Wolle in Basel, lockerte und mischte sie in einem kleinen sog. Mischwolf, befeuchtete sie im warmen Wasserdampf und stampfte sie schliesslich mit nackten Füssen fest. Schon im Jahr darauf errichtete er am Froschbühlbächli eine Filzwalke mit Wasserrad und schliesslich ein Produktionsgebäude im Engegraben (heute Rohr).
Im November 1849 heiratete seine Tochter Rosina-Katharina in Thun den 21-jährigen Samuel Siegenthaler (1828–1893), der im gleichen Jahr ins Geschäft seines Schwiegervaters eintrat. Doch schon drei Jahre später starb Niklaus Ellenberger. Die Witwe von Niklaus Ellenberger war schon im Todesjahr ihres Mannes in den Bisluft am südlichen Rande des Enggisteinmooses auf Worber Boden gezogen und verkaufte später die Besitzungen bei Biglen. Der junge Schwiegersohn übernahm die noch sehr bescheidenen Fabrikationsanlagen. Neu wurden auch Filzfinken produziert, die im Backofen des Dorfbäckers getrocknet werden mussten. Das Geschäft floriert, nicht zuletzt dank diesen Finken, die Siegenthaler für die Soldaten im Krimkrieg (1853–1856) in grossen Massen liefern konnte.
Filz vom Bisluft (1869–1937) 1869 zog Samuel Siegenthaler mit seinen sechs Kindern, fünf Töchtern und einem Sohn, ins Bisluft, wo er die Produktion der einträglichen Filzfinken im Wohnhaus seiner Schwiegermutter fortführte. 1871 erwarb er den Bisluft samt einem Landwirtschaftsbetrieb und errichtete 1872 das erste Fabrikationsgebäude. Weitere Produktionsbauten folgten und bildeten schliesslich einen kleinen Industriekomplex am Rande des Enggisteinmooses. Die Energie holte man sich aus dem nahen Biglenbach. Es wurden immer mehr Mitarbeiter angestellt. Der Worber Filz war offenbar von solcher Qualität, dass er sogar international bekannt wurde: An den Weltausstellungen von Philadelphia (1876) und Paris (1878) wurde er mit einer Medaille geehrt.
Friedrich Siegenthaler (1857–1918), der einzige Sohn von Niklaus, übernahm 1890 den Betrieb. Er liess 1907 im Enggisteinmoos ein Wasserkraftwerk zu 7,5 PS, bestehend aus einem 300 m langen Wasserkanal aus Holz und einem Wasserrad errichten, welches die mechanische Energie für die Maschinen lieferte. Im Ersten Weltkrieg geriet die Firma in eine Krise. Es fehlte das Geld für den Ersatz des veralteten Maschinenparks, und da keine Importwolle mehr erhältlich war, musste teure Wolle aus dem Wallis bezogen werden. Die Firma überlebte dank der Aufträge der Kriegstechnischen Abteilung (KTA) von Stegpolstern für die Armeepferde, die bis 90 % des Umsatzes ausmachten. In diesen schwierigen Kriegsjahren diversifizierte die «Filzi» und begann – vorausschauend –, für die Uhrenindustrie Filzrondellen zum Polieren zu produzieren.
In diesen schwierigen Kriegsjahren stellte sich die Nachfolgefrage. Und zum zweiten Mal rettete ein Schwiegersohn die Firma. Die einzige Tochter von Friedrich Siegenthaler hatte 1914 den Sekundarlehrer Emil Schneiter (1888–1965) geheiratet, der 1917 als Teilhaber in die neue Kollektivgesellschaft Siegenthaler & Schneiter eintrat. Nun erfolgte ein Modernisierungsschub: 1917 wurde nach dem Diebstahl eines Ballens kostbarer Capwolle eine interne Warenkontrolle sowie eine moderne Buchhaltung eingeführt. Diese ergab bei Passiven in der Höhe von 70 561.– Fr. und Aktiven von 185 147.– ein stattliches Reinvermögen von 114 586.–. Die Aktiven bestanden jedoch zu rund 113 000.– Fr. oder 60 % aus dem Warenlager und noch offenen Rechnungen von Kunden…
Die 1938 eingeweihte Filzfabrik in Enggistein mit dem Sheddach (um 1955). Die schräg gestellten und verglasten Dächer erlauben einen maximalen Lichteinfall in die Produktionshalle (IG Worber Geschichte, Bilddatenbank, Foto Ernst Aebi).
Neben der mageren Liquidität und den teuren Rohstoffen war vor allem die rationierte Kohle ein existenzielles Problem. Emil Schneiter holte 1918 seinen Bruder Alfred (1853–1953), einen arbeitslosen Bautechniker, in den Betrieb und beauftragte ihn, im Enggisteinmoos Torf zu stechen. Es wurden eine Torfmaschine, Rollwagen und der erste Lastwagen, ein Ungetüm von 5 Tonnen mit Eisenreifen, angeschafft sowie Geleise und Weichen gelegt. In den Sommern 1918–1920 stachen 30 bis 70 Personen jeweils gegen 100 Wagenladungen Torf, welche die Fortführung der Filzproduktion sicherten.
Die Geschäfte gingen offenbar nicht schlecht, denn Emil Schneiter konnte 1919 die Holzsohlenfabrik Bürgi in Münsingen kaufen. Ein riskantes Vorhaben, denn schon 1921/22 stürzten die Preise ab. Der Betrieb stand kurz vor dem Konkurs, aber die beiden Brüder schafften es, über die Runden zu kommen und sogar die beiden Betriebe auszubauen:1928 wurde der Betrieb in Enggistein mit der Energie aus dem Biglenbach elektrifiziert; es wurden laufend neue und effizientere Maschinen angeschafft; in Münsingen produzierten 25 Arbeiterinnen ab 1936 die vorerst einträglichen Hutstumpen (Hutrohlinge als Zwischenprodukt für die Hutproduktion).
Nach dem Schock des Landesstreiks von 1918 wurde die soziale Stellung der Mitarbeiter laufend verbessert: Einführung des Achtstundentags (1919) und von Ferien (1929), Schaffung eines Hilfsfonds (1932), die Gründung einer Betriebskommission (1935) und bereits in der Kriegszeit 1941 die Altersvorsorge, ein Vorläufer der 2. Säule, die in der Folge drei Rendite-Liegenschaften in Worb, Münsingen und Konolfingen erwarb und 2000 aufgelöst wurde.
Filz aus Enggistein (ab 1937) Die «Filzi» kam wirtschaftlich erfolgreich durch die Weltwirtschaftskrise. Die Fabrik in Bisluft war aber inzwischen baufällig. Ein Neubau auf oder im Enggimoos war infolge des schlechten Baugrunds aus weichem Torf viel zu teuer. Schliesslich erwarb Emil Schneiter 1936 von der Burgergemeinde Worb an der Strasse nach Enggistein für 1 Franken je Quadratmeter eine grosse Baulandparzelle, wo er seine neuen Produktionsanlagen errichtete. 1938 fand die Einweihungsfeier statt. Neben dem Neubau investierte Schneiter im Sinne einer Vorwärtsstrategie laufend in neue Maschinen – und das alles mit Bankkrediten. Überschuldung und Liquiditätsknappheit waren dann die treuen Begleiter der Firma in den folgenden Jahren.
In den Kriegsjahren 1939–1945 herrschte in der Filzi Hochkonjunktur. Die ausländische Konkurrenz war weg, und die Auftragsbücher waren voll. Gewitzt durch die Versorgungsschwierigkeiten im Ersten Weltkrieg, hatte Emil Schneiter vorgesorgt: Zu Beginn des Kriegs waren die Lager im Bisluft, in Enggistein und in Münsingen randvoll. Wegen des doppelten Blockaderings der Alliierten und der Achsenmächte um die Schweiz wurde der Import von Rohmaterialen, so etwa von Gerberwolle aus Marokko, zunehmend erschwert, zeitweise sogar unterbrochen. Und wieder umwarb die «Filzi» die Schafzüchter im Wallis. Man begann, auch mindere Qualität zu verarbeiten. Emil Schneiter notierte in sein Tagebuch: «Allerdings kann man in diesen Zeiten alles verkaufen. Auch das Schlechte ist heute bald einmal gut genug. Wenn man nur Ware bekommt. Für den Absatz brauchen wir heute nicht mehr zu sorgen.»
Neben dem Mangel an Rohstoffen sowie den Abwesenheiten wegen Aktivdienst war wie im Ersten Weltkrieg die Energienot wieder ein Thema. Die ausländische Kohle war teuer geworden und auf 50 % des Vorkriegsniveaus rationiert. Und so nahm 1941 die Filzi den Torfabbau im Enggisteinmoos wieder auf. Sohn Peter Schneiter (1916–2001), der 1936 als Hilfsarbeiter in die Firma eingetreten war, übernahm die Leitung des Torfbetriebs. Die Filzi benötigte nur einen Teil der 900 Tonnen gestochenen Torfs und konnte die Tonne zu 850.– Fr. weiterverkaufen. Zum Einfeuern des Torfs sammelte die Belegschaft im Diemtigtal noch 70 Tonnen Tannenzapfen!
Das Kriegsende brachte viele Änderungen. Der Patron Emil Schneiter demissionierte 1945 nach 14 Jahren als FDP-Grossrat. Geschäftlich ging es steil aufwärts: Die Nachfrage, vor allem aus dem kriegsversehrten Ausland, stieg gewaltig an. Löhne, Preise und Lieferfristen gingen nach oben. 1947 trat Peter Schneiter als Teilhaber in die Firma ein. Im gleichen Jahr wurde der Torfabbau eingestellt. In den Werken Enggistein und Münsingen wurden neue Gebäude errichtet, so 1948 drei Shedhallen in Enggistein. Die Geschäfte liefen gut, die Banken freigebig mit Krediten. Die erste Nachkriegszeit wurde 1956 mit der Übernahme der Geschäftsleitung durch Peter Schneiter abgeschlossen. Der Umsatz belief sich in jenem Jahr bereits auf 2,74 Mio. Fr.; die Belegschaft umfasste 107 Personen sowie 202 Heimarbeiterinnen, die im Diemtigtal und Emmental aus Filzstreifen Endefinken flochten..
Die Produktepalette wurde durch Filze für die verschiedensten industriellen Anwendungen erweitert. Aber es gab auch einige Flops: So wurde 1956 die 1931 in Münsingen aufgenommene Produktion von Hutstumpen wegen mangelnder Rentabilität aufgegeben. Die 1976 für Kinder entwickelten Bastelpackungen aus Filz waren kein Erfolg. Während Jahrzehnten spielte der 1949 in die Firma eingetretene Robert Ochsenbein (1920–2004), Schwiegersohn von Emil Schneiter, Worber Gemeinderat und Gründer der Worber Jugendmusik, ab 1961 als Gesellschafter und technischer Leiter neben seinem Schwager Peter Schneiter eine wichtige Rolle beim Aufschwung der Firma. Die wirtschaftlich gute Situation kam der Belegschaft zugute. Bereits 1945 erhielten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mehr Ferien, 1947 eröffnete die Firma für die Belegschaft das Ferienhaus Mäderweid im Diemtigtal, und bereits 1952 wurde die Fünftagewoche eingeführt.
Nadelfilz: die Geldmaschine (1968–1980) Eine Zäsur in der Geschichte der «Filzi» bildete die Nadelfilzproduktion. Um 1960 setzte der Siegeszug des Nadelfilzes ein, vor allem als Bodenbelag. In öffentlich zugänglichen Räumen wie Schulen, Eingangshallen und Büros, aber auch im Privatbereich wurden landauf landab Filzböden verlegt. Die Geschäftsleitung schwenkte rasch auf diesen Trend ein. Bereits 1968 wurde im neuen Nadelfilzgebäude im Werk Enggistein die Produktion von Nadelfilz-Bodenbelägen unter dem Produktenamen Fissco aufgenommen, die ab 1985 der Firma den Namen gab. Das Spitzenjahr war 1975 mit einem Umsatz für Nadelfilz von knapp 3,5 Mio. Fr.
1969 übernahm die Firma die Filzwerke AG in Niedergösgen und stellte dort sofort auf Nadelfilz um. Die Geschäfte liefen prächtig. Der Gesamtumsatz erreichte Anfang der 1970er Jahre 10 Mio. Fr. Es wurde auf Kosten der Liquidität kräftig in Gebäude, Maschinen und auch schon in die Digitalisierung investiert. Der Aufwärtstrend erlebte nach der Ölkrise von 1974 einen ersten Knick. 1975 ging der Umsatz um 8 % zurück, im Schweizer Markt gar um 34 %. Es war das wachsende Auslandgeschäft, so der Export in die Türkei und in den Iran, das den Umsatz stützte und für die Fissco immer wichtiger wurde.
Zwischen Bangen und Hoffen (1980–2010) Ab den 1980er Jahren ging es schleichend bergab. Auf gute Jahre gab es immer mehr schlechte, ein Auf und Ab. Die tiefe Liquidität und die hohe Schuldenlast wurden zum langfristigen Problem. Infolge von neuen Technologien und dem Einsatz von neuen Materialien, vor allem auch der Übergang von mechanischen Geräten zu digitalen, sank weltweit die Nachfrage nach Filzprodukten aller Art – eine klassische Strukturveränderung. Die Nadelfilzmode bei den Teppichböden endete. Der Umsatz der technischen Nadelfilze begann 1982 und die Nachfrage nach Wollfilzen ab 1987 zu sinken. Es gab aber immer wieder lukrative Aufträge (so Bodenbeläge für die neue Schanzenpost), und es wurden erfolgreiche neue Produkte lanciert wie der Smash-Tennisbelag oder «Philips-Ringe» für die Firma Philips (Rutschkupplungen für Autokassettengeräte).
Die Bedienung der Kredite wurde zunehmend zum Problem. Die Hausbanken (Spar- und Leihkasse, Schweizerische Volksbank, Schweizerische Kreditanstalt) verlangten immer lauter die Rückzahlung von Krediten. Lieferanten konnten oft nur verspätet bezahlt werden, wobei es oft auch die Kunden waren, die mit Zahlungen im Rückstand waren oder gar in Konkurs gingen. Ab 1992 begannen einzelne Lieferanten, Vorauszahlungen zu verlangen; die AHV drohte mit Betreibung. Für einzelne Abteilungen musste immer wieder Kurzarbeit angeordnet werden. Die Auszahlung von ausscheidenden Gesellschaftern belastete die Finanzen zusätzlich und führte zu familieninternen Streitigkeiten.1983 musste die Produktion in Niedergösgen eingestellt werden; die Gebäude wurden vermietet und 1988 verkauft. Produkte, welche Verlust einfuhren, wurden aus dem Sortiment gestrichen, so die Endefinken. Sukzessive wurde Personal abgebaut.1996 wurde auch die Produktion in Münsingen eingestellt und die Anlage kurz darauf verkauft.
1997 wurde zum ersten Mal mit der Hausbank die Betriebseinstellung thematisiert. Man begnügte sich aber mit einem einschneidenden Sanierungsplan. Die Abwärtsspirale hielt an. Nicht einmal mehr für die Sanierung des einsturzgefährdeten Sheddachs reichte das Geld. Es musste mit einem Notdach gedeckt werden. 1999 wurde das Ferienhaus Mäderweid verkauft. 1999 kam es zu weiteren schmerzhaften Sanierungsmassnahmen: Das Aktienkapital wurde abgeschrieben und durch Angehörige der Familie Schneiter wieder auf 300 000.– Fr. aufgestockt.
Trotz der Sanierungsmassnahmen verschlechterte sich die Lage ab 2000 weiter. Wichtige Kunden kamen ins Trudeln, einzelne wie die Ascom verschwanden sogar. Während das Auslandgeschäft einigermassen stabil blieb oder sogar florierte (Türkei, Ungarn, Slowakei), brach das Schweizer Geschäft sukzessive weg. Zudem belasteten neue Umweltschutz-Vorschriften der EU und des Kantons Bern die Rechnung. Die Firma geriet mit Zahlungen immer mehr in Verzug. Der Mitarbeiterbestand sank bis 2010 auf 28 Personen.
Fabrikation von Hutstumpen in Enggistein (undatierte Foto, wohl um die 1940er Jahre, Familienarchiv Schneiter im Gemeindearchiv Worb).
Die Finanzkrise von 2007/2008 brachte der Fissco AG das Ende als Familienbetrieb. 2009 begannen Verkaufsverhandlungen, nachdem die Banken weitere einschneidende Massnahmen verlangten, so eine Nachfolgeregelung auf Stufe Aktionariat und Management, das heisst: ein Verkauf und ein neues Management. Die Gespräche mündeten schliesslich am 3. Juni 2010 in den Verkauf der Fissco AG an die Holding NISAG AG von Niklaus Sägesser. Damit endete die Filzi nach 169 Jahren als Familienbetrieb Ellenberger-Siegenthaler-Schneiter. Ein neues Kapitel in der Firmengeschichte wurde aufgeschlagen.
Die Chefs der «Filzi 1841–1852 Niklaus Ellenberger 1852–1890 Samuel Siegenthaler 1890–1918 Friedrich Siegenthaler 1918–1956 Emil Schneiter 1956–1994 Peter Schneiter 1995–2010 Markus Schneiter Seit 2010 Niklaus Sägesser
MARCO JORIO