Drittes Schulhaus in Worb-Dorf an der Egggasse aus dem Jahre 1812. Die Standorte des ersten Schulhauses (erwähnt um 1616) und des zweiten (erbaut im Jahr 1743) sind unbekannt, lagen aber im Dorfzentrum. Bild: zvg

Schulgeschichte: Bildung und Bildungsferne in der Schweiz und in Worb um 1800

Das Schulwesen in der Schweiz war schon um 1800 weit entwickelt. Lesen konnten sehr viele Kinder, wenn sie aus der Schule kamen. Aber nicht alle: Armut und Kinderarbeit waren die grössten Hindernisse. Die Gemeinde Worb zeigt aber, dass das kein Schicksal sein musste, sondern dass das Schulwesen schon damals als politische Aufgabe erfolgreich angegangen wurde.

1. Bildungsferne als Entfernung zur Schule
«Bildungsferne» bedeutete in der Zeit um 1800 buchstäblich «weite Entfernung zur Schule». Philipp Albert Stapfer, der helvetische Bildungsminister, fragte bei seiner berühmten Enquête von 1799 an erster Stelle genau danach. Die Frage lautete:

«I. Lokalverhältnisse.

1. Name des Ortes, wo die Schule ist …
2. Entfernung der zum Schulbezirk gehörigen Häuser?
(diese wird nach Viertelstunden bestimmt; es heisst z.B. innerhalb des Umkreises der nächsten Viertelstunde liegen 25 Häuser, innerhalb des Umkreises der zweyten 13 Häuser, und innerhalb des Umkreises der dritten 4 Häuser).»

Damals war die Winterschule die Regel. Und das machte aus einer Viertelstunde rasch einmal eine halbe oder eine ganze Stunde. Die Stapfer-Enquête liefert sehr konkrete Antworten auf die genannten Fragen.

Die schweizweite Enquête von 1799 ist nicht die erste Erhebung der Schulsituation. Ausführliche Beschreibungen zu den Berner Schulen finden wir schon in der Umfrage von 1780 zum Pfarrkapitel Bern, wo es z.B. für Oberhünigen, Gemeinde Schlosswil, heisst: Ein Grund für schlechten Schulbesuch «ist die beschwerlichkeit des weges, und die entfernus von der schuhl, wie derer von Ebersold, die da eine gantze stund lang durch den hochwald bis nach Oberhünigen hinab in die schuhl zu gehen haben, da dann im winther der weg nicht nur gefährlich, sonder für die kinder mehrmals wegen dem häufigen und tiefen schnee oder dem eis ganz unbrauchbar ist.»

Jens Montandon hält in seiner Studie zur Berner Schulumfrage von 1806 zu den Umweltgründen für die Schulferne fest: «unvorstellbar lange Distanzen…, die topographischen, klimatischen und meteorologischen sowie infrastrukturellen Voraussetzungen schränkten generell, insbesondere im Winter, die alltägliche Mobilität der Menschen ein, nicht nur die der Kinder auf dem Schulweg. Innerhalb von Dorfkernsiedlungen und entlang gebahnter Wege und Routen waren derartige Hürden vernachlässigbar oder von geringer Tragweite; in Streusiedlungen abseits hergerichteter Strassennetze hingegen bedeuteten sie gerade für kleinere Kinder bisweilen unüberwindbare Hindernisse.» 

2. Schulwege, Absenzen und geringe Lesequoten – ein statistischer Zusammenhang
Oberhasli, das Schwarzenburgerland, Seftigen, dann Signau und Trachselwald im Emmental stellten schulische Problemzonen mit generell sehr weit entfernten Schulen dar. Und bei ihnen waren auch die Extremfälle mit enorm weiten Entfernungen in einigen Schulgemeinden ausgeprägt. Burgdorf und das Obersimmental wiesen lediglich in einzelnen Schulgemeinden Extrem­entfernungen auf. 

Eher günstig sah es für die Ämter aus, in denen mindestens die Hälfte maximal 30 Minuten Schulweg hatte und keine Extremfälle wie in Burgdorf und dem Obersimmental existierten: Aarberg, Aarwangen, Bern, Büren, Erlach, Fraubrunnen, Frutigen, Interlaken, Konolfingen, Laupen, Nidau, Niedersimmental, Saanen, Thun und Wangen. Dass weite Wege und eine ungünstige Topographie für häufige Absenzen verantwortlich waren, leuchtet auf den ersten Blick ein. Die Statistiken bestätigen diese Annahme. Alle Ämter mit überwiegend sehr weiten Schulwegen wiesen auch besonders schlechte Präsenzen auf. 

Und die Absenzen führten zu schlechten Lernergebnissen im Hauptfach Lesen (rote Punkte in der Graphik):

Montandon, Gemeinden 1806, S. 209. Rote Punkte: Bezirke mit schlechten Lernergebnissen im Lesen.

3. Das Armutssyndrom
Abwesend waren vor allem die Kinder armer Leute. Denn Armut bedeutete fehlende Kleider und Schuhe sowie auch mangelnde Nahrung. Und das machte den Schulweg im Winter mühsam oder sogar unmöglich. Denn Arme wohnten oft weit entfernt von den Dorfzentren.

Die zeitgenössischen Interpretationen der Pfarrer stützen diese Deutung. 1780 bemerkt der Pfarrer für Münsingen zum Zusammenhang von Armut und weiten Schulwegen: «So sind es gewöhnlich kinder armer und dürftiger eltern, die entweder nicht im stande sind, ihre kinder nach nothdurft zu kleiden, dass sie beÿ harter witterung und strengem frost die oft weit entlegene schule besuchen können; oder die ihnen nicht vermögen zu ihrem mittagsmahl solche nahrung in die schule mitzugeben.»

Und der Pfarrer von Schlosswil führt aus: «Und endlichen sind auch sehr viele elteren blut=arm, als die da sagen, sie haben das vermögen nicht, ihre kinder zu kleiden und fleissiger in die schule zu schicken, sondern sie müssen sie by hause behalten, damit sie ihnen mit spinnen, flechten, oder einer anderen hand=arbeith helfen, einen fenning (Pfennig) verdienen.»

4. Sozialkapital, Macht und Migration 
Wo die Häuser verstreut lagen wie im Emmental und anderen voralpinen oder alpinen Gebieten, war die Platzierung der Schule ein Politikum. Die Macht der Wohlhabenden führte dazu, dass Schulen dort zu stehen kamen, wo sie wohnten. Der Dichter Jeremias Gotthelf alias Albert Bitzius, der auch Schulinspektor war, thematisierte diese Tatsache in seinem Schulmeisterroman 1838/39 am Idealtyp der Gemeinde Gytiwil («Geizdorf»), wie Markus Hofer 2020 in seiner Arbeit über das Engagement von Albert Bitzius/Gotthelf für die Volksschule berichtet: «Eine Gruppe von Taunern (= Taglöhnern), deren Siedlungen sich am weitesten entfernt vom Schulhaus befinden, spricht das Begehren aus, den Neubau auf ihrer Seite des Dorfes zu errichten; schliesslich vermöchten es die Kinder der Bauern «besser, Schuhe und Strümpfe den heillosen Dorfgassen Preis zu geben». Ihre Forderung wird aber von der Dorf­elite, die darin eine Anmassung sowie einen Ausdruck der sich bereits im Gang befindlichen revolutionären Umwälzung im Kanton Bern erblickt, brüsk zurückgewiesen… Bitzius [rückt] hier die Grossbauern in ein bildungsfeindliches und anti-egalitäres Licht und unterstellt ihnen eine reaktionäre Gesinnung: Sie missgönnen den Kindern der Tauner einen leichteren Zugang zur Schule und lehnen eine legitime Forderung diskussionslos ab.»

Dass die Armen im Kanton Bern im Ancien Régime keine Macht besassen, erklärt sich daraus, dass sie häufig am Ort gar nicht stimm- und wahlberechtigt waren, und das lag an ihrem häufigen Migrationshintergrund. Nur «Einheimische» waren politisch berechtigt. Die Binnenwanderung von armen Orten in prosperierende, frühindustrielle Siedlungen führte aus dem Emmental in stadtnahe Gemeinden, gerade auch in den Raum Worb, etwa nach Vechigen, Stettlen, Bolligen und Wattenwil/Worb.

Besonders die Leinenweberei scheint nicht nur am Ort selbst für die Armen attraktiv gewesen zu sein, sondern löste auch eine Wanderungsbewegung hin zu den Produktionszentren aus, etwa nach Walkringen oder Burgdorf, in dessen Nähe sich die hohen Nichtburgerraten auffällig häuften. Es ist bekannt, dass Wattenwil/Enggistein – wie auch Stettlen – ein Zentrum der Leinenweberei waren. Der enorme Anstieg der Hintersassenanteile lässt sich also damit begründen, dass hier Working Poor zuzogen, die ein Auskommen in der Weberei suchten. 64 % der Bevölkerung waren Ende des Jahrhunderts Weber.

5. Faktoren für Bildungsferne: Kapitalmangel und Leben an der Peripherie – ein vorläufiges Fazit
Bildungsferne und Armut bildeten ein Syndrom. Bildungsferne generierten der
Mangel an ökonomischem Kapital: keine Schuhe für den Weg zur Winterschule, keine warme Kleidung, keine Nahrung für den Tag in der entfernten Schule, die Pflicht für die Kinder armer Eltern, durch Spinnen, Flechten und Weben im Winter oder durch Arbeit auf dem Feld, wo es denn Sommerschule gab, zu den kargen Existenzgrundlagen beizutragen; 
Mangel an kulturellem Kapital: Die Eltern sahen in der Regel die Schule als Zeitverschwendung; Bildung war für die Sicherung der Lebensgrundlagen unwichtig: Was sollte man auch als gebildeter Tauner werden, wenn nicht wieder Tauner? 
Mangel an sozialem und politischem Kapital: Die Unterschicht hatte keinen Einfluss auf den Standort der Schule und die Unterstützung armer Kinder. Das war Sache des wohlhabenden Dorfpatriziats, das Gotthelf in Gytiwil karikiert. 

Häufig waren es Migranten auf der Suche nach Arbeit und Auskommen, die weit von der Schule am Rand der Gemeinde in bescheidenen Taunerhäusern siedelten. Sie waren arm. Ihre Kinder hatten keine Zeit für die Schule, sondern mussten arbeiten. Sie hatten keine Kleidung für die Winterschule, keine Schuhe, nichts zu essen. Das alles machte aus der physischen eine soziale Topographie. Diese soziale Topographie der Lebenswelt fand ihren Ausdruck in der Marginalisierung der Armen und in einem Leben fern von Bildung. 

6. Und die Situation in Worb?
Worb erlebte die gleichen demographischen Veränderungen wie die anderen Gemeinden im Kanton Bern: Die Bevölkerung wuchs rapide im 18. und besonders im 19. Jahrhundert. Die Zahl der burgerlichen Armen, also derer, die in Worb heimatberechtigt waren, stieg allein zwischen 1742 und 1798 um 190%, also fast auf das Dreifache. Besonders in Worb-Dorf und Wattenwil erreichte der Anteil der Migranten an der Bevölkerung 1798 über 40% (Worb) und 55% (Wattenwil).

Aber die Gemeinden, insbesondere die Schulgemeinden, gingen die Probleme mit einigem Erfolg an. Hier zeigt sich ein anderes Szenario als bei Gotthelf. Der «Staat», d.h. die für das Schulwesen zuständige Kirchgemeinde (als «Staat vor Ort») tat etwas. Er schuf Schulen.

Es entstanden immer neue Schulen, Lehrer kamen in alle Viertel, unterrichteten in Wohnungen, und allmählich baute man Schulhäuser. Durch die Errichtung von neuen Schulen in den Aussenbezirken wurde in der Kirchgemeinde Worb die räumliche Bildungsferne für abgelegen wohnende Schulkinder reduziert. Alle Schulen waren in maximal ¼ Stunde zu erreichen (ausser die Wechselschule in Rüfenacht und Vielbringen mit max. ½ Stunde). Zudem wurden die Lehrer immer besser bezahlt, so dass ihr Sozialprestige und damit die Qualität der Lehrer und des Schulunterrichts stiegen.

Die Auflistung der Worber Schulen zeigt den Ausbau des Schulwesens im 17. und 18. Jahrhundert:
– 1616: eine einzige zentrale Schule in Worb
– 1670: vermutlich zwei Schulen, je eine in Worb und Richigen
– 1710: vermutlich eine dritte Schule in Wattenwil
1742: neue Schulhäuser in Wattenwil und Richigen, ein altes in Worb, total drei Schulhäuser
1743: Neubau eines Schulhauses in Worb-Dorf
um 1800: fünf Schulen in Worb-Dorf, Wattenwil, Richigen und nun auch in Ried-Enggistein und Rüfenacht/Vielbringen.

Die wirtschaftliche Prosperität verband sich mit der zentralen Wohnsituation zu einem bildungsfreundlichen Syndrom. Die Kirchgemeinde Worb ist hier ein Paradebeispiel: Das gilt besonders für Worb Dorf, das durch den Enggisteinbach Energieressourcen besass, die bis ins 20. Jahrhundert zahlreiche Huf-, Hammer-, Sensen- und Nagelschmieden, Sägereien, Schleifereien, Walken/Mangeln, Gerbereien, Stampfen und Mühlen antrieben. Hier wie auch in Wattenwil mit der Weberei gab es Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten auch für arme Leute, Ressourcen zur Finanzierung der Schule und Nachfrage nach guten Kulturkompetenzen. Und dank dem Ausbau des Schulwesens entstanden kurze Schulwege.

7. Lernerfolge in Worb
Die Graphik aus der Umfrage von 1806 erfasst alle Kinder, die ein Lehrer zu unterrichten hatte, also unabhängig vom Alter, nicht nur die Schulabgänger. Man muss deshalb hochrechnen, um deren Kompetenzen zu schätzen: Danach haben in Worb-Dorf sicher über 90% der Kinder erfolgreich lesen gelernt, in Wattenwil und Rüfenacht/Vielbringen über 80%, in Richigen und Ried/Enggistein aber nur über 70%. Worb-Dorf und Wattenwil lagen mit ihren Werten in der oberen Spitzengruppe des Amtes Konolfingen (siehe Abbildung «Lesende pro Amt» weiter oben).

Worb ist also ein sehr gutes Beispiel dafür, dass erfolgreiche Politik Bildungsferne schon im Ancien Régime reduzieren konnte. Aber die strukturellen Hindernisse durch das Armutssyndrom blieben auch nach 1800 weiterhin Gründe für Bildungsferne. Schulpolitik schaffte die Armut nicht ab. Armut blieb deshalb auch im 19. Jahrhundert ein virulentes Dauerproblem.

HEINRICH RICHARD SCHMIDT

Schmidt, «Teutsche Schulen», S. 464.

Die Stapfer-Enquête von 1799

Die sogenannte Stapfer-Enquête von 1799 ging auf die Initiative des Erziehungsministers der Helvetischen Republik Philipp Albert Stapfer (1766–1840) zurück, der die Schulpolitik der 1798 ausgerufenen Republik auf gesicherten Fakten bauen wollte und deswegen einen standardisierten Fragebogen mit rund 60 Fragen entwarf, die von den Lehrern (und wenigen Lehrerinnen) in der ganzen Schweiz ausgefüllt wurde.

Der in Worb wohnende Berner Universitätsprofessor Heinrich Richard Schmidt hat als Editionsleiter eines gross angelegten Nationalfondsprojektes zwischen 2009 und 2015 diese erste schweizweite Schulumfrage als Online­edition herausgegeben: https://www.stapferenquete.ch/

Im Kontext der Edition sind auch zahlreiche, ebenfalls online zugängliche Studien zur Schulsituation der Schweiz um 1800 erschienen: 
https://www.stapferenquete.ch/projekt/publikationen

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