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«I ma mi bsinne»: Zeitzeuginnen erinnern sich

Der Artikel zum Armeestab 1940/41 in Worb und der Aufruf an die Zeitzeugen, sich zu melden, lösten einiges Echo aus. Zwei Zeitzeuginnen berichten von jener gefahrvollen Zeit und eine wieder entdeckte Inschrift erinnert daran, dass Worb in jenen beiden Jahren ein «Hotspot» der Schweizer Geschichte war.

In der letzten Dezembernummer der Worber Post berichtete ich von der Weihnachtsfeier 1940 des Armeestabs, die angeblich in Worb stattfand. Auf einer der abgedruckten Fotos waren Mädchen als Engel und eine Art «Schmutzli» zu sehen. Fand diese Feier überhaupt in Worb statt? Waren es Worber Kinder? Ein Aufruf zur Identifizierung der Kinderschar erbrachte kein Ergebnis. In der Juninummer 2021 wurde über die Anwesenheit des Armeestabs in Worb berichtet. Der Aufruf an Zeitzeugen, sich zu melden, war dieses Mal erfolgreich. Zwei Zeitzeuginnen, beide nicht mehr in Worb wohnhaft, wurden durch Worber-Post-Leserinnen ermuntert, von ihren Erinnerungen zu berichten. 

Ich konnte die beiden Zeitzeuginnen Hanni Stettler-Wyss am 2. Juli 2021 und Bluette Lauener-Kilchenmann am 14. Juli 2021 interviewen. Dabei fielen mir drei Dinge auf: Erstens legten beide Frauen eine phänomenale Gedächtnisleistung an den Tag. Nach 80 (!) Jahren erinnerten sie sich noch verblüffend genau an zahlreiche Details aus ihrer Kindheit. Und zweitens berichteten beide von Begegnungen mit dem General, die sich besonders ins Gedächtnis einprägten, und drittens wussten beide – damals noch Mädchen –, dass es sich beim Militär im Dorf nicht um irgendwelche Truppen, sondern um den Armeestab handelte.

Hanni Stettler-Wyss: Tür an Tür mit der Armeeführung
Neugierig und wachen Auges sitzt die Worberin Hanni Stettler-Wyss in ihrem Zimmer im Altersheim im Seewinkel in Gwatt. Mit Jahrgang 1927 war sie 13-jährig, als der Armeestab Anfang Juni 1940 in Worb einzog. Als Zeitzeugin ist sie besonders interessant, da sie gleich neben der Haushaltungsschule aufwuchs, Dort war bis Ende März 1941 die zentrale Sektion «Operationen» einquartiert, ein Nervenzentrum der militärischen Führung. Diese plante den Einsatz der Schweizer Armee. Hier kreuzte im Juni und Anfang Juli fast täglich General Guisan auf, um die schwierige militärische und politische Lage der Schweiz nach der Kapitulation Frankreich am 25. Juni 1940 zu besprechen. Und hier entstand der Plan, einen Teil der Armee in die Alpen, ins Reduit, zurückzuziehen, und diesen folgenschweren Entschluss dem Volk und der Armee auf dem Rütli zu erklären («Rütlirapport»). Natürlich erfuhr die Familie Wyss trotz ihrer Nachbarschaft zum Entscheidungszentrum nicht, was in der abgeschirmten Haushaltungsschule geschah, aber sie erlebte das Drumherum.

Hanni Stettler-Wyss erzählt:
«Ich bin auf dem kleinen Bauernbetrieb ‹Sonnhalde› gleich neben der Haushaltungsschule aufgewachsen. Mein Vater Christian und meine Mutter Johanna Schindler aus Rüfenacht, wo ihre Eltern den Hof Hinterhaus gepachtet hatten, führten den Betrieb. Wir waren sieben Kinder. Ich war die Älteste, dann folgten Margrith, Käthy, Erika, Trudi und als Nachzügler Christian, der am 11. Mai 1940, am Tag nach der zweiten Mobilmachung, geboren wurde, sowie Marianne. Unsere Grosseltern hatten gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Hof von der Familie von Wattenwil gekauft, die 1886 auf ihrem Land auch die Gründung der Haushaltungsschule ermöglicht hatte. Wir hatten ein gutes Verhältnis zur Haushaltungsschule, vor allem zur Leiterin Frl. Marie Jent. Wir lieferten Produkte vom Hof an die Schule, zum Beispiel Milch. Unsere Männer mähten die Wiesen und schlachteten die Hühner. Wir Kinder durften immer am 1. August zur Feier hinübergehen: Da gab es Schoggicrème und Feuerwerk, das wir uns nicht leisten konnten. Und wenn wir irgendein ‹Bobo› hatten, verarztete uns Frl. Jent.

Im Juni 1940 zog die Armee in der Haushaltungsschule ein. Die Schule selber ging in ein Einfamilienhaus in Dorfnähe und führte dort wegen dem Krieg den Schulbetrieb reduziert weiter. Viele Schülerinnen waren Bauerntöchter und wurden auf den Höfen ihrer Eltern gebraucht, da ihre Väter und Brüder mobilisiert waren. Das Areal der Haushaltungsschule war abgesperrt, aber wir wussten schon damals, dass die Spitze der Armee nun unsere Nachbarn waren. Es herrschte dauernd Betrieb mit Autos, Pferden und vielen Offizieren und Soldaten. Den General sahen wir oft aus nächster Nähe ein- und ausgehen. Bei uns war eine Wache einquartiert, rund ein Dutzend Soldaten. Sie belegten eine der Stuben sowie die Küferwerkstatt unseres Onkels und assen auf der Terrasse neben der Haustüre. Das Essen wurde ihnen geliefert, und wir bekamen von ihnen immer wieder Resten. Mit den Wachtsoldaten hatten wir es oft lustig, aber vor den hohen Offizieren hatten wir grossen Respekt. Obwohl wir vieles selber produzierten, verspürten auch wir die Rationierung, z.B. den Mangel an Zucker. Wir mussten lachen, als es einmal Alarm gab und unsere wackere Wachtmannschaft blitzartig im Keller verschwand, während wir oben blieben. Unter den Soldaten waren auch immer wieder Bauern, die uns halfen. Die Hilfe war uns sehr willkommen, obwohl unser Vater als Dienstuntauglicher keinen Militärdienst leisten musste. Zu den Offizieren und Soldaten in der Haushaltungsschule selber hatten wir keinen Kontakt, einzig zu einigen Frauen des Frauenhilfsdienstes (FHD). Diese fragten uns Mädchen, ob wir das Geschirr gegen Bezahlung abwaschen würden. Und so verdienten wir etwas Sackgeld. An den Wegzug des Militärs und die Rückkehr der Haushaltungsschule erinnere ich mich nicht mehr.

Ich selber besuchte damals die Sekundarschule in Worb und durfte dann aber keinen Beruf erlernen. 1943 ging ich für ein Jahr zu einem Weinbauern ins genferische Meinier, dann arbeitete ich zuhause und ein halbes Jahr in einem Blindenheim. 1947 besuchte ich die benachbarte Haushaltungsschule. Am 11. Mai 1950 heiratete ich in Konolfingen Samuel Stettler. Wir pachteten 1963 in Richigen an der Bachstrasse einen Hof, der heute von unserem Sohn Fritz bewirtschaftet wird. Unser Bruder Christian übernahm im gleichen Jahr das kleine Heimet Sonnhalde. Aber 1969 ging es durch Brandstiftung in Flammen auf, worauf es Christian verkaufte und einen Hof in Châbles erwerben konnte. 2014 zog ich mit meinem Mann ins Altersheim in Gwatt, weil eine Tochter hier Krankenschwester war. Mein Mann starb 2017.»

Schon in ihren schriftlichen Erinnerungen «I ma mi bsinne …», die sie um 1987 verfasst hatte, berichtete Hanni Stettler, dass der Armeestab in der Haushaltungsschule einquartiert gewesen sei. Beim Alarm, bei dem die Wachtmannschaft zur Belustigung der Familie Wyss im Keller verschwand, dürfte es sich um den Alarm vom 16. Juni (oder eine vorbereitende Übung dazu) gehandelt haben, als die deutschen Truppen überraschend längs der Juragrenze in Richtung Genf vorstiessen. Das Armeekommando befürchtete damals einen Überfall auf die Schweiz, der durch einen Enthauptungsschlag in Form eines Luftangriffs auf die Standorte von General und Armeesstab eingeleitet werden könnte. Der Kommandant des Hauptquartierbataillons und Ortskommandant von Worb hatte Weisungen für diesen Fall erlassen. Als Erstes musste der Luftangriff überlebt werden, daher suchten die Wachtsoldaten richtigerweise zuerst Schutz im Keller. Erstaunlich ist, dass die Familie Wyss und wohl auch die übrige Zivilbevölkerung offenbar in diese Alarmpläne nicht eingeschlossen waren. Die deutschen Bomben hätten ja keinen Unterschied zwischen Militär und Zivilbevölkerung gemacht.

Hanni Stettler-Wyss belegt zudem die Präsenz von Angehörigen des FHD auch in einer der wichtigsten Sektionen der Armeeführung. Sicher übten die Frauen als Hilfsdienstangehörige keine zentralen Funktionen aus. Sie waren wohl als Telefonistinnen (wie die Foto in der Worber Post 6/21 zeigt) oder als Sekretärinnen eingesetzt. Dazu waren sie offenbar auch gemäss dem damaligen Rollenbild für Haushaltarbeiten in der Operationssektion zuständig. Das Abwaschen jedenfalls delegierten sie elegant an die Wysstöchter.

Bluette Lauener-Kilchenmann: Guisans Engel 
Bluette Lauener-Kilchenmann (*1933) stammt aus der in Worb bestens bekannten Schreinerfamilie Kilchenmann an der Enggisteinstrasse 30, die heute von ihren beiden Neffen Stefan und Martin geführt wird. Ihr Vater Gottfried übernahm 1937 den Schreinereibetrieb von seinem Vater. Für Worb etwas aussergewöhnlich heiratete er nicht eine «Hiesige», sondern die französischsprachige Marguerite Paschoud aus Lutry, die als Absolventin einer Handelsschule später im Büro ihres Mannes mitarbeitete. Und so wuchs Tochter Bluette mit drei Schwestern und drei Brüdern im «Stöckli» neben dem Bauernhaus der Kilchenmanns auf. Zuhause sprach man Französisch. Dank ihrer Erzählung steht nun definitiv fest, dass die Weihnachtsfeier tatsächlich in Worb – genauer im Löwen – stattgefunden hat und es sich um Worber Erstklässler der Lehrerin Käthi Aeschbacher (1915–2005), der Tante des Druckers Hans-Jürg Aeschbacher, handelte. Bluette Lauener-Kilchenmann hat ihre Erinnerungen schriftlich festgehalten und mündlich ergänzt:

«Meine Gotte Bluette Paschoud aus Lutry arbeitete als Telephonistin bei den PTT in Lausanne. Dort wurde sie – obwohl nicht im FHD – für den Dienst beim General in sein Hauptquartier nach Gümligen geholt, weil sie in Worb eine verheiratete Schwester – eben meine Mutter, besser bekannt als ‹Stöckli-Mamma› – hatte, bei der sie wohnen konnte. So kam meine Gotte zum Armeestab. Sie radelte jeden Tag von Worb ins Schloss Gümligen. Als der General wegzog, kehrte sie nach Lutry und auf ihre frühere Arbeitsstelle zurück.

Unsere Lehrerin, Käthi Aeschbacher, war FHD. Sie wählte in unserer Klasse einige Mädchen aus mit langen Zöpfen und mich, wohl wegen meinen Französischkenntnissen; denn ich hatte keinen Zopf. Wir mussten weisse Röckli beschaffen, was gar nicht einfach war in der damaligen Zeit. Wir hatten keine Ahnung für was. Man machte uns hübsch, mit Kränzchen oder so im Haar. So standen wir vor dem Löwen. Unsere Lehrerin war ein Samichlaus geworden. Er erklärte uns, dass die Soldaten an Weihnachten nicht heimgehen könnten. Wir seien jetzt Engel, die jedem Soldat ein Päckli überreichen können. Dann ging’s in den Löwen-Saal. Ich sehe die langen Tischreihen noch vor mir und die vielen, vielen Soldaten. Unser Samichlaus redete mit den Soldaten. Plötzlich sagte er, er habe einen speziellen Engel dabei, der spreche Französisch. Dann ging alles sehr schnell. Ich wurde durch die engen Soldatenreihen geschoben, in die Höhe gehoben und dann sass ich auf dem Tisch vis-à-vis von einem Soldat mit Schnauz – es war der General. Der hatte Freude, sprach dauernd Französisch, hob das Weissweinglas, trank daraus, reichte es mir für einen Schluck und gab mir dann ein ‹kräftiges Müntschi›. Daran erinnere ich mich ganz gut. Dass ich anschliessend mit dem Handrücken energisch die nassen Spuren vom Schnauz aus dem Gesicht wischte, was ein grosses Gelächter im Saal auslöste, haben wir durch meine Gotte vernommen. Ein Soldat, der an unserer Feier dabei war, hat es ihr erzählt. Dies sind meine Erinnerungen an die Begegnung mit unserem General Guisan.»

Nach dem Krieg absolvierte «Guisans Engel» eine Verwaltungslehre bei einem Notar, dann das bäuerliche Lehrjahr. 1958 heiratete sie Ueli Lauener (*1932), dessen Vater Ernst Verwalter des stadtbernischen Gutshofs in Enggistein war, das die Stadt Bern 1935 erworben hatte und vordem das Waisenhaus des Amtsbezirks Konolfingen war. Ernst Lauener wurde dann 1953 Statthalter des Amtsbezirks Konolfingen. Auch Ueli Lauener weiss viel zu erzählen, so von den jeweils rund 30 Flüchtlingen aus vielen Nationen, die während des Kriegs auf dem Gutshof in Enggistein untergebracht waren und nicht nur eitel Freude bereiteten. Nach zwei Jahren auf einem Bauernhof im Kanton Solothurn übernahm das Ehepaar Lauener-Kilchenmann 1960 einen Pachtbetrieb in Zimmerwald, wo es vier Kinder grosszog. 1993 übersiedelte es ins Elternhaus von Ehemann Ueli nach Grosshöchstetten, wo es heute noch lebt. 

Marco Jorio

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