Der ehemalige Chefredaktor Martin Christen fragte mich vor über 10 Jahren an, ob ich bei der Worber Post mitschreiben möchte. Ich sagte, ja, aber nur, wenn ich etwas machen kann, das mir liegt und frei von der Hand kommt. Es sollte nichts mit Politik zu tun haben. Ich lese gerne über Politik, aber ich möchte nicht darüber schreiben. Stattdessen wollte ich mich den Menschen zuwenden, die mir aus ihrem persönlichen Leben erzählen, immer zu einem speziellen Schwerpunkt.
Ich wollte die Leute aus der Mitte des Lebens zu Wort kommen lassen. Und zwar so, dass sie selbst erzählen, nicht ich über sie schreibe. Deshalb entstand das Vis-à-vis in Form eines Gesprächsprotokolls. Es sollte authentisch wirken, mit bewusst eingefügten Dialektsätzen, um dr gnau Ton z’träffä. Zumindest habe ich mich bemüht, diesen zu treffen. Mir wurde vieles am Küchen- oder Stubentisch erzählt, das einen Platz in einem Roman finden könnte – und genau das wollte und konnte ich einfangen.
Mein erstes Vis-à-vis war mit einer älteren Frau, einem Schulgrosi im Schulhaus Vielbringen. Ihre Rolle war anders als die einer Lehrperson, eher sozialer Natur, aber nicht weniger wichtig. Ich wollte diesem Schulgrosi ein Gesicht geben – und das war der Anfang.
Ich habe 131 Vis-à-vis geschrieben. Jede Begegnung war einzigartig, aber ein paar bleiben besonders im Gedächtnis. Da war der Püüru aus Wattenwil, der mit seinem Traktor über Polen und die Slowakei bis an die ukrainische Grenze fuhr, nur um die Welt zu sehen. Und der Gymnasiast, der Vögel beobachtete, Kräuter sammelte und damit seiner Familie Fünf-Gänge-Menüs zauberte. Diese Geschichten sind mir geblieben. Aber würde man mich in zwei Stunden wieder fragen, kämen mir sicher noch andere in den Sinn.
Die grösste Herausforderung für mich war: Wei d Lüt überhoupt mit mir rede? Ihre Gesprächsbereitschaft hat das Vis-à-vis erst möglich gemacht, und dafür bin ich unendlich dankbar. Es gab auch Absagen, die mir im Gedächtnis geblieben sind – wie eine ältere Frau, die meinte: ‹Die, womi kenne, kenne mi u die, womi nid kenne, bruche mi nid z kenne.› Ob dieser Aussage musste ich schmunzeln. Natürlich hätte ich die Dame gerne interviewt, ich habe jedoch Absagen immer respektiert. Die Absage eines älteren Herren machte mich jedoch etwas stutzig. Er meinte, dass er im Leben nichts Interessantes erlebt habe. Diesen Satz glaube ich auch keinem Schulkind. Jedes Leben schreibt seine Geschichten.
Ich habe gelernt, wie bereichernd es ist, mit Menschen zu reden, die aus einer anderen Welt stammen. Das meine ich nicht geografisch. Ich meine damit den Austausch mit jemandem, der einen völlig anderen Lebensalltag als den meinen hat.
Nach zehn Jahren schliesse ich das Vis-à-vis ab. Es ist ein runder Abschluss. Ab 2025 erfordert meine Arbeit als Verleger mehr Raum in meinem Gehirn. Das Vis-à-vis war zwar keine Belastung, aber immer präsent. Wäre ich erst bei neun Jahren gewesen, hätte ich noch ein Jahr drangehängt. Zehn ist eine starke Zahl. Das gefällt mir. Mit der Zehn lässt sich abschliessen.
Ich wünsche meinen Lesern und Leserinnen der vergangenen 10 Jahre spannende Begegnungen mit ihren persönlichen Vis-à-vis. Ich wünsche ihnen einen Blick in die Welt, der weniger das Ungerade und Unbekömmliche erkennt, sondern einen auf das Schöne, das vor einem Liegende.
Über die zehn Jahre haben mich nicht nur die wunderbaren Gespräche begleitet. Bei jedem zu schreibendem Artikel stellte ich mir immer wieder dieselbe Frage: Wie heisst dr Schlusssatz?
Aufgezeichnet von
MARTIN FONTANELLAZ