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Der neutrale Schweizer Soldat verweigert seine Hilfe. 1994 lehnte das Schweizer Stimmvolk mit 57 % die Schaffung eines UNO-Blauhelmkontingents ab. Der Zeichner Patrick Chappatte rückt das unsolidarische Abseitsstehen der Schweiz und damit diese Form der Neutralität in ein schlechtes Licht. Bild: Globe Cartoon 1994.

Geschichte der schweizerischen Neutralität: «Mischt euch nicht in fremde Händel»

Mit diesem angeblich vom heiligen Landespatron Niklaus von Flüe stammenden Ausspruch wird seit Jahrzehnten die Neutralität geradezu religiös gerechtfertigt. Die Geschichte zeigt aber, dass es DIE Neutralität nie gegeben hat. Sie wandelte sich und war nie ein Dogma, sondern immer nur eine Maxime für die aussen- und sicherheitspolitischen Interessen der Schweiz.

Entstanden ist die Neutralität als völkerrechtliches Institut und mit ihr die schweizerische Neutralität als aussenpolitische Maxime im 17. Jahrhundert, als das moderne Völkerrecht entstand und die Eidgenossenschaft als souveränes Staatsgebilde anerkannt wurde. Neutrales Verhalten ist aber älter, wie das Beispiel der zahlreichen antiken griechischen Städte belegt, die sich an den permanenten innergriechischen Kriegen nicht beteiligen wollten. Erst im Mittelalter entstand der lateinische Begriff «neutralitas». Kirchenrechtlich und moraltheologisch war Neutralität im Mittelalter eigentlich nicht erlaubt, da ein Kriegführender entweder einen «gerechten Krieg» (bellum iustum), z.B. als Angegriffener oder einen «ungerechten Krieg» (bellum iniustum) als Aggressor führte. Dazwischen gab es nichts. Ab 1500 lehnte eine staatstheoretische, juristische und moralische Literatur zunehmend das Konzept des Bellum iustum ab. Jeder Staat bekam nun das Recht, Krieg zu führen. Der Neutrale war nicht befugt, über die Rechtmäs­sigkeit eines Krieges zu urteilen und hatte gegenüber allen Kriegsparteien «unpartheyisch» zu sein.

Die nichtneutrale Schweiz
Die Eidgenossen waren in den ersten Jahrhunderten alles andere als neutral. Sonst hätte es ja keine Eidgenossenschaft gegeben. Die Entstehung der schweizerischen Neutralität ist bis heute von Legenden umwoben. Es war nicht Niklaus von Flüe, der die Neutralität als Visionär «angemahnt» hatte, wie dies etwa Bundespräsident Pilet-Golaz in seiner Erst-August-Ansprache von 1941 meinte. Auch dessen angebliche Aussprüche «Machet den Zuun nit zu wiit» und «Mischt euch nicht in fremde Händel» stammen nicht von ihm, sondern vom Luzerner Geschichtsschreiber Hans Salat, der sie ihm 1537 in den Mund legte. Die Eidgenossen haben sich nach der Niederlage von 1515 in Marignano auch nicht auf die Neutralität «besonnen» (Edgar Bonjour), wie dies heute noch landläufig erzählt wird. Sie haben weiterhin Krieg geführt, sei es als Söldner und in eigener Regie, wie etwa die Eroberung der Waadt durch Bern 1536 belegt. Marignano ist erst kurz vor 1900 zum Gründungsmythos der Neutralität geworden. Die Eidgenossenschaft wahrte aber schon im 16. Jahrhundert gelegentlich Neutralität, wenn es ihr zweckmässig erschien.

Die Schweiz wird dauernd neutral
Die Wende zur dauernden Neutralität als Staatsmaxime geschah während des Dreissigjährigen Kriegs (1618–1648) und der zahlreichen Kriege, die Ludwig XIV. anzettelte. So wurden schon in den 1620er Jahren der Durchmarsch von fremden Truppen verboten und die Pässe militärisch besetzt. Nach massiven Grenzverletzungen beschlossen die eidgenössischen Orte 1647 das gesamteidgenössische «Defensionale» von Wil. Es schuf zum ersten Mal eine gemeinsame Landesverteidigung und bildete eine Art Vorläufer der Schweizer Armee. Nach dem Dreissigjährigen Krieg setzte die Eidgenossenschaft ihre Neutralitätspolitik fort. Als Ludwig XIV. 1674 die neutralisierte Freigrafschaft besetzte, erliess sie die erste offizielle Neutralitätserklärung. Die Eidgenossen, aber auch das Ausland, begannen, die Schweiz als neutral wahrzunehmen.
Mit der französischen Aggression von 1798 ging mit der Alten Eidgenossenschaft auch die Neutralität unter. Sie erstand wieder nach dem Sturz Napoleons in den Jahren 1813 bis 1815. Sie wurde aber nicht, wie eine neuere Legende behauptet, der Schweiz am Wiener Kongress auferlegt. Nach der Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht bei Leipzig proklamierte nämlich die Tagsatzung schon am 18. November 1813 die Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz. In den folgenden zwei Jahren versuchten die Schweizer Politiker hartnäckig, von den desinteressierten Grossmächten die Anerkennung ihrer Neutralität zu erwirken. Erst als die Tagsatzung die Beschlüsse des Wiener Kongresses ratifiziert hatte, gewährten die Siegermächte am Pariser Friedenskongress am 20. November 1815 die ersehnte Anerkennung.

Die moderne Neutralität
Die Väter der Bundesverfassung von 1848 lehnten die Aufnahme der Neutralität in die Zweckbestimmungen der neuen Bundesverfassung ab, da diese «kein konstitutioneller und politischer Grundsatz» sei, übertrugen aber in den sog. Kompetenzartikeln die Wahrung der Neutralität dem Bundesrat und der Bundesversammlung. Und so hielten es auch die Bundesverfassungen von 1874 und 1999. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Neutralität dann aber mehrfach herausgefordert, so vor allem im Deutsch-Französischen Krieg. Bei der Internierung von über 80 000 Soldaten der Bourbakiarmee 1871 kam nur wenige Jahre nach seiner Gründung (1863) das Rote Kreuz zum ersten Mal zum Einsatz. Es entstand damals das Bild der humanitären Schweiz als Samariter Europas.
Im Zeitalter von Imperialismus und Kolonialismus führten die Staaten eine intensive völkerrechtliche Neutralitätsdiskussion, die 1907 ins «Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkriegs» mündete. Diese nur noch von der Schweiz angewandte Haager Konvention basierte auf dem heute geächteten «jus ad bellum», dem Recht eines jeden Staates, Krieg zu führen, egal ob als Aggressor oder als Verteidiger. Der Krieg galt noch 1907 als legitime Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, wie der preussische Militärdenker Clausewitz formulierte.

Die beiden Weltkriege
Im Ersten Weltkrieg (1914–1918) sicherte die Neutralität den inneren nationalen Zusammenhalt, der durch Klassenkampf und den Sprachenkonflikt zwischen Deutsch und Welsch gefährdet war. Sie wurde von den Kriegführenden im eigenen Interesse respektiert. 
Im Rahmen der europaweiten «Nie-wieder-Krieg»-Bewegung trat die Schweiz 1920 nach einer Volksabstimmung dem neu gegründeten Völkerbund bei. Auf Drängen der Schweiz bestätigten aber 27 Staaten in der Londoner Erklärung vom 13. Februar 1920 die Schweizer Neutralität als Sonderfall. Sie entbanden die Schweiz als einziges Land von der Pflicht, an militärischen Sanktionen teilzunehmen, nicht aber an wirtschaftlichen. Nach der italienischen Aggression gegen Abessinien/Äthiopien 1935 übernahm die Schweiz – allerdings widerwillig und unvollständig – die vom Völkerbund verhängten Sanktionen. Sie verbot aber auch die Ausfuhr von Waffen und Munition an das Opfer Abessinien und berief sich dabei – genau wie heute – auf die Haager Konvention. Diese verlangte die Gleichbehandlung der beiden Kriegsparteien bei der Ausfuhr von Kriegsmaterial aus privater Produktion. Die Schweiz stiess schon damals mit dieser Auslegung auf heftige Kritik im Völkerbund. Ihr wurde vorgeworfen, dass der Rückgriff auf die Haager Konvention völkerrechtswidrig sei, da sich inzwischen das Völkerrecht mit der Ächtung des Kriegs durch den Völkerbund und den Kellog-Briand-Pakt von 1928 weiterentwickelt habe. Ein Neutraler dürfe den Aggressor (Italien) nicht mehr gleich behandeln wie das Opfer (Abessinien). Da der Völkerbund seine friedenssichernde Mission nicht erfüllte, erreichte die Schweiz 1938 vom Völkerbund, dass sie auch keine wirtschaftlichen Sanktionen mehr übernehmen musste. Auf die Phase der «differenziellen Neutralität» folgte diejenige der «integralen Neutralität».
Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erklärte der Bundesrat am 31. August 1939 wie in früheren Kriegen die Neutralität, welche die kriegführenden Staaten zwar anerkannten, aber nur selektiv beachteten. So respektierten sie die Luftneutralität der Schweiz nicht und trugen den Luftkrieg ungeachtet aller Proteste aus Bern in den schweizerischen Luftraum, samt Bombardierungen mit schliesslich gegen 100 Toten. Zudem führten beide Kriegsparteien völkerrechtswidrig einen harten Wirtschaftskrieg gegen die Schweiz (und andere neutrale Länder) und legten um die Schweiz einen doppelten Blockadering. Sie brachten damit unser Land in existentielle Nöte. Mit der im Juni 1940 eingetretenen fast vollständigen Einschliessung durch die beiden Achsenmächte wurde die Schweiz zu wirtschaftlichen, neutralitätswidrigen Konzessionen gezwungen. Der Bundesrat hatte bei Kriegsbeginn wie in den früheren Kriegen ein Waffenausfuhrverbot verhängt, das dann aber auf Druck der Alliierten (nicht Deutschlands!) schon am 8. September 1939 wieder aufgehoben wurde. Frankreich machte nämlich die Anerkennung der Neutralität von der Lieferung der bestellten Waffen abhängig – eine glatte Erpressung. Aufgrund des neutralitätsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots gestattete die Schweiz ab 1940 Rüstungslieferungen aus privater Produktion auch ans Deutsche Reich und nach Italien. Der Bundesrat hielt sich im Grossen und Ganzen, soweit es ihm möglich war, akribisch und sehr legalistisch an das Neutralitätsrecht.

Die Schweiz übertreibt mit ihrer Neutralität
Die Neutralität war 1945 international diskreditiert. Während die Neutralität vor 1914 noch ein legitimes Verhalten souveräner Staaten war, wurden die beiden Weltkriege von den Siegern, allen voran von den lange Zeit selber neutralen USA, als «gerechter Krieg» geführt und den Neutralen ihre Nichtbeteiligung als moralisches Unrecht vorgeworfen. Es brauchte Jahre, bis die Schweizer Neutralität in der internationalen Politik, etwa als neutrales Mitglied der Waffenstillstandskommission in Korea (1953) oder als Vorbild für die österreichische Neutralität (1955), wieder geschätzt wurde. Aufgrund ihrer traumatischen Erfahrungen mit dem Völkerbund und während des Zweiten Weltkriegs führte die Schweiz nach 1945 eine rigide Neutralitätspolitik zwischen den beiden Blöcken. Sie vermied jede Teilnahme an multilateralen Institutionen, in denen sie eine politische oder gar militärische Dimension witterte. Deshalb trat sie nicht der UNO bei und hielt Distanz zur europäischen Einigung. 1950 gab sie jedoch dem westlichen, vor allem amerikanischen Druck nach und folgte der Embargopolitik gegen die kommunistische Sowjetunion und ihre Satelliten, um nicht selber sanktioniert zu werden. Ab 1960 lockerte der Bundesrat die strenge Neutralitätspolitik. So trat die Schweiz 1963 dem Europarat bei und übernahm ab Mitte der 1960er Jahre – obwohl noch nicht Mitglied – die ersten Sanktionen der UNO. In den 1970er Jahren engagierte sie sich zusammen mit anderen neutralen und bündnisfreien Staaten in der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, ab 1995 OSZE).

Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks und der Auflösung der Sowjetunion um 1990 richtete der Bundesrat 1993 die Neutralität neu aus. Sie sollte fortan auf den militärischen Bereich beschränkt werden. «Sicherheit durch Kooperation» lautete der neue Slogan. Vor allem in akademischen Kreisen wurde der Ruf nach Aufgabe der Neutralität laut. Daniel Thürer meinte etwa 1998: «Das Sonderstatut des dauernd Neutralen ist weitgehend obsolet geworden. Die Neutralität als Konzept der schweizerischen Aussenpolitik hat ausgedient.» Der Versuch, die Neutralität neu zu definieren, scheiterte grandios. Die Schweizer Bevölkerung und mit ihr die politischen Eliten hielten grossmehrheitlich unverdrossen an der traditionellen Neutralität fest. Noch 1986 lehnten die Stimmberechtigten den UNO-Beitritt und 1994 die Blauhelmvorlage ab. Erst 2002 gab es aufgrund glücklicher Umstände ein knappes Ja zum UNO-Beitritt.

Wie weiter?
Die erregten Neutralitätsdiskussionen der 1990er Jahre verstummten mit dem Beitritt der Schweiz zur UNO. Aber weder die Politik noch die Völkerrechtler rafften sich auf, eine Neutralität für das 21. Jahrhundert zu konzipieren. Und so stolperte die Schweiz mit einer überholten Neutralitätskonzeption in die von Putins Russland ausgelösten Krisen. Mit der russischen Aggression am 24. Februar 2022 zerplatzte die Illusion vom Ende der zwischenstaatlichen Kriege in Europa. Die Neutralität war wieder zurück. Mit ihrem rigorosen Waffenausfuhrgesetz handelte sich die Schweiz viel Ärger ein. Das heutige Waffenausfuhrverbot, das sogar weit über das rudimentäre Neutralitätsrecht von 1907 hinausschiesst, ist eine schweizerische Eigenentwicklung und das Produkt eines pazifistischen und moralischen Mainstreams. Mit dem Festhalten an der obsoleten Haager Konvention von 1907, vor allem von Art. 9 (Gleichbehandlungsgebot bei Waffenausfuhren), sabotiert zudem die Schweiz den Art. 51 der UNO-Charta. Dieser gibt nur dem Opfer einer Aggression das Recht auf Krieg. Der Bundesrat und vor allem das Parlament praktizieren eine Neutralität, die dem heutigen Völkerrecht nicht entspricht, die Schweiz international isoliert und der Schweiz sicherheitspolitisch und reputationsmässig schadet. Es gibt keinen Grund, die Neutralität Hals über Kopf aufzugeben. Eine Neukonzeption auf der Basis der UNO-Charta ist jedoch dringend notwendig. MARCO JORIO

Am Mittwoch, 17. Mai 2023 um 19 Uhr liest Marco Jorio im Rahmen des Schweizer Vorlesetages in der Buchhandlung zur Schmökerei in Worb aus seinem Buch.

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