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Marco Jorio blättert in seinem Arbeitszimmer im Buch über Neutralität von Altbundesrätin Micheline Calmy-Rey. Bild: AW

Buch-Neuerscheinung: «Die Neutralität muss neu verhandelt werden»

In den vergangenen 400 Jahren war die Schweiz in unterschiedlicher Weise neutral. Der Historiker Marco Jorio hat ein Buch zur Schweizer Neutralität verfasst und zeigt auf rund 500 Seiten auf, wie es sich von damals bis heute mit der Neutralität verhält und was sie in ihrem Kern eigentlich ist.

Spätestens seit dem fatalen Einmarsch Russlands in die Ukraine ist Marco Jorio ein gefragter Gesprächspartner, wenn es um die Schweizer Neutralität geht. Für die Forschung war das Thema in den vergangenen 20 Jahren kaum von Bedeutung – die Letzte, die zur Neutralität publiziert hat, war 2020 Altbundesrätin Micheline Calmy-Rey. Nun legt der Historiker aus Rüfenacht in seinem Buch «Die Schweiz und ihre Neutralität. Eine 400-jährige Geschichte» einen Gesamtüberblick über die wechselvolle Geschichte der Neutralität vor. Marco Jorio war von 1988 bis 2014 Chefredaktor des Historischen Lexikons der Schweiz (HLS). In seiner Forschung zum Untergang des Fürstbistums Basel, dem Katholizismus in der Schweiz, der Militärgeschichte des Ersten Weltkriegs und den Aus­senbeziehungen der Schweiz im Ancien Régime kam er immer wieder mit dem Thema Schweizer Neutralität in Berührung.

Herr Jorio, was ist Neutralität und warum muss man von Schweizer Neutralität sprechen?
Neutralität hat viele Bedeutungen, wie ein Blick in den Fremdwörterduden belegt. Uns interessiert die politisch-militärische Bedeutung. Demnach heisst Neutralität «Nichtteilnahme eines Staates an zwischenstaatlichen und innerstaatlichen Kriegen». Man muss darüber sprechen, weil die Neutralität während vier Jahrhunderten die schweizerische Aussenpolitik sowie die Selbst- wie auch die Fremdwahrnehmung geprägt hat. Durch den Ukrainekrieg hat sie wieder an grosser Aktualität gewonnen.

Wie unterscheidet sich die Neutralität der Schweiz von anderen neutralen Staaten wie Österreich oder Irland?
Jeder Staat praktiziert seine eigene Neutralität, gestützt auf seine politische Kultur, seine Geschichte und seine geostrategische Lage. Man müsste daher eher von Neutralitäten sprechen. DIE Neutralität einfach so gibt es nicht.

In Ihrem Buch blicken Sie auf über 400 Jahre Neutralitäts-Geschichte zurück. Wie ist es zu dem Buchprojekt gekommen?
2015 wurde ich an die diplomatische Akademie in Wien eingeladen, um anlässlich der Feier «60 Jahre österreichischer Staatsvertrag und 60 Jahre österreichische Neutralität» einen Vortrag über die Schweizer Neutralität zu halten. Dies ist dem Verleger Bruno Meier vom Verlag hier und jetzt zu Ohren gekommen. Da er der Auffassung war, dass das Thema Neutralität wieder aufkommen könnte, fragte er mich vor sechs Jahren, ob ich interessiert sei, ein Buch darüber zu schreiben. Seit dem Jahr 2000 war nämlich die Neutralität im öffentlichen Diskurs kein Thema mehr. Die letzte Gesamtgeschichte stammt von Edgar Bonjour aus den 1970er Jahren. Meine Kollegen belächelten und bemitleideten mich, dass ich mich mit diesem verstaubten und uferlosen Thema befasse. Das hat sich mit der russischen Aggression schlagartig geändert. Da ist uns die Neutralität geradezu auf die Füsse gefallen und ich musste mich beeilen, das Buch fertig zu stellen.

Gerade wenn es um die Schweizer Neutralität geht, sind viele Mythen und Legenden im Umlauf. Sie haben mal von der Neutralität als barockes Monstrum gesprochen. Wie sind Sie beim Schreiben vorgegangen?
Ich habe mich primär an die wissenschaftliche Literatur und die publizierten Quellen gehalten. Bis vor dem 2. Weltkrieg ist die Literatur noch überschaubar. Dann wurde enorm viel über die Neutralität geschrieben – auch viel Mythisches. Aber schon der Altmeister der Neutralitätsgeschichte, der Zürcher Staatsarchivar Paul Schweizer, hat 1895 in seinem Standardwerk über die Schweizer Neutralität die Geburtsstunde der Schweizer Neutralität bis zur legendären Gründung der Eidgenossenschaft um 1300 zurückgeführt. Bei der Darstellung der Neutralität muss man das Denken der Zeit beachten, man kann nicht die heutige Neutralitätskonzeption in die Vergangenheit projizieren. Auch die Forschung zur Neutralität ist zeitgebunden. Nach der Wende von 1990 setzte ein Bildersturm auf die Neutralität ein. Ihr Nutzen wurde in Frage gestellt und in Politik und Zeitungen wurde heftig über die Zweckmässigkeit gestritten. Ab 2000 verstummte dann die Diskussion.

Seit sich die Schweiz den Wirtschaftssanktionen der EU gegen Russland angeschlossen hat, ist ein Deutungswettstreit über die Schweizer Neutralität ausgebrochen. Wie kam es dazu, dass die Neutralität dermassen identitätsstiftend ist?
Diese identitätsstiftende Funktion ist alt. Sie hat sich bereits während dem 1. Weltkrieg gebildet und spielte eine Rolle beim Eintritt der Schweiz in den Völkerbund 1920. Die Mythisierung wurde während dem 2. Weltkrieg und im Kalten Krieg vorangetrieben. Die Bevölkerung stand immer mit rund 90 % Zustimmung hinter der Neutralität. Historiker wie Edgar Bonjour, aber auch die Medien und die Politik nährten die Vorstellung von der Neutralität als zentrales Element der nationalen Identität. Aber man übersah, dass es im Grunde Neutralität nur bei Konflikten, das heisst als Position zwischen Feinden, gibt. Als 1945 der letzte Krieg zwischen Nachbarstaaten aufhörte, dann die NATO gegründet und später der Kalte Krieg beendet wurde, war man plötzlich von Freunden umzingelt, wie es in den 1990ern hiess. Zwischen wem und wem will man noch neutral sein? Die Neutralität wurde von den Intellektuellen als nicht mehr zukunftstauglich deklariert und als Worthülse beschimpft. Das hat aber Politik und Bevölkerung nie erreicht: Noch diesen Monat standen in der Umfrage der ETH 90 % der Bevölkerung hinter der Neutralität.

Muss die Bedeutung der Schweizer Neutralität neu verhandelt werden und spielt sie heute überhaupt noch eine Rolle?
Ja, die Neutralität muss meines Erachtens neu verhandelt werden. So wie sie heute praktiziert wird, ist sie nicht mehr zweckmässig. Im Umfeld der demokratischen Rechtsstaaten Europas spielt die Neutralität keine Rolle mehr. Die Gründung der EU und der NATO hat sie überflüssig gemacht, aber nicht ausserhalb dieses Kontextes, wie der Ukrainekrieg belegt. Auch innenpolitisch spielt sie keine Rolle mehr. Die konfessionellen, politischen und sprachlichen Gegensätze sind seit dem 1. Weltkrieg bereinigt. So gesehen ist die Neutralität also nicht mehr nötig. Sie ist nur noch aus der Tradition heraus zu verstehen.

Dann hat die Schweizer Neutralität heute also keinen Nutzen mehr?
Der Nutzen ist im Moment nicht sehr gross. Aber sie hätte noch ihren Wert, wenn man sie an das 21. Jahrhundert anpassen würde. Die Schweiz ist ja das einzige Land, das sich noch an der Haager-Konvention aus dem Jahr 1907 orientiert. Das war eine ganz andere Zeit. Da hatte jeder Staat das Recht Krieg zu führen. Seither hat sich das Völkerrecht völlig verändert: Angriffskriege sind verboten. Nach 1990 hat es die Schweiz versäumt, ihre Neutralität am neuen Völkerrecht und vor allem an der UNO-Charta auszurichten. Die Politik, die derzeit gemacht wird, gefährdet die Sicherheit und den bisher guten Ruf der Schweiz. Die Neutralität wird nach wie vor überinterpretiert, es werden Themen hineingepackt, die nichts mit Neutralität zu tun haben. Das rigorose Waffenausfuhrgesetz beispielsweise ist eine schweizerische Eigenkreation, die sogar weit über das traditionelle Neutralitätsrecht hinausschiesst.

Inwiefern wird die Sicherheit der Schweiz durch die derzeitige Auslegung der Neutralität gefährdet?
Die heutige dogmatische Anwendung der Neutralität ist zum einen nicht einmal neutral. Mit dem Waffenausfuhrverbot auch gegen das Opfer Ukraine verschafft die Schweiz dem mächtigeren Aggressor einen Vorteil. Sie verletzt auch das Gleichbehandlungsgebot aus der Haager Konvention. Gleichzeitig sabotiert die Schweiz damit den Artikel 51 der UNO-Charta, der dem Opfer einer Aggression als einzigem Staat das Recht auf militärischen Widerstand gibt und erlaubt Krieg zu führen.

In Ihrem Buch gehen Sie auf die Legenden und Mythen rund um die Neutralität ein. Was erhoffen Sie mit Ihrem Buch zu erreichen?
Während dem Studium hat einer meiner Professoren gesagt, die Historiker hätten die Aufgabe, Mythen zu zerschlagen. Daher versuche ich Neutralitätslegenden zu widerlegen, etwa zu Niklaus von Flüe als Mahner und Stifter der Neutralität, von der Schlacht bei Marignano 1515 als Beginn der Neutralität und von der angeblich auf dem Wiener Kongress 1815 von den Siegermächten auferlegten Neutralität. Interview: AW

Info
Das Buch «Die Schweiz und ihre Neutralität» von Dr. Marco Jorio erscheint Mitte April 2023 und wird am 25. April in Bern vorgestellt. Es kann in der Schmökerei Worb bezogen werden, wo am 17. Mai 2023 um 19 Uhr eine Lesung mit Marco Jorio stattfindet.

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