An der Luzernstrasse in Richigen versteckt sich hinter einem mächtigen Berner Bauernhaus das «Schlössli» oder «von-Wattenwyl-Gut» aus dem 18. Jahrhundert. Das patrizische Landhaus, in der Fachsprache «Campagne» genannt, befindet sich in privatem Besitz und ist öffentlich nicht zugänglich. Vor einigen Tagen öffneten sich nun die Türen exklusiv für die Mitglieder der IG Worber Geschichte.
Wechselvolle Geschichte
Der Landsitz Richigen in der alten Herrschaft Worb kann auf Grund der Architektur (einem Grundrisstyp mit durchlaufendem Korridor) und der festen Ausstattung (so z.B. das Treppengeländer und die Wulstprofil-Holzarbeiten der Laube im Obergeschoss) in die 1720er/1730er Jahre datiert werden. Wer sein Bauherr war, steht noch nicht fest. Die Eigentumsforschung hat herausgefunden, dass der Landsitz im mittleren 18. Jahrhundert Beat Rudolf Fischer (1733–1798), Rebgutbesitzer zu St-Blaise und Urenkel von Beat (1641–1698), des Gründers der Fischer’schen Post, gehört hat. Als er in eine finanziell katastrophale Lage geriet, musste er das Gut 1770 dem Hauptmann und «Negotianten» Albrecht Emanuel Meley (1731–1815) verkaufen. 1836 wurde es von Gottlieb Emanuel von Wattenwyl (1788–1861) erworben und blieb bis 1900 im Besitz seiner Nachkommen, von wo es den Namen «von-Wattenwyl-Gut» erhielt. Die Nachbesitzer von 1877 bis 1895, Eduard Friedrich Ludwig von Wattenwyl und dessen Gemahlin Anna Maria geb. May nahmen wahrscheinlich die Veränderungen der Innenausstattung vor. 1934 erwarb es Jules Albert René Dollfus von Volckersberg (1906–1985), Sohn des (reformierten) Katholisch-Konservativen Tessiner Nationalrats und Generaladjutanten der Schweizer Armee, Divisionär Ruggero Dollfus von Volckersberg (1876–1948), Schlossbesitzer von Kiesen. 1986 erwarben die heutigen Eigentümer das Herrenhaus, während der Gutshof ins Eigentum der Gemeinde Worb kam, die es bereits 2020 wieder einem Privaten weiterverkaufte.
Ein architektonisches Gesamtkunstwerk
Die Gesamtanlage von Richigen besteht aus dem sehr stattlichen Gutshof, der um 1820 wohl vom jungen Niklaus Albrecht Stettler (1795–1836), Enkel und Patenkind Meleys, erbaut wurde, den beiden kaum älteren eingeschossigen Nebenbauten unter Mansarddach, dem Stöcklispeicher mit Ofenhaus und dem Holzhaus, wobei die Nutzung dieser beiden Nebengebäude noch nicht restlos geklärt ist. Herrenhaus, Gutshof und die beiden Nebengebäude bilden ein sauberes Geviert, das einen repräsentativen Zugangshof als Vorfahrt für den Herrensitz umschliesst. Ein später zum Stöckli gestellter Hofbrunnen mit prächtiger Vase entstand um 1730. Anzunehmen ist, dass der Neubau des Gutshofs mit seinem grossen, im Erdgeschoss gemauerten, darüber in Riegkonstruktion errichteten Wohnteil einen Vorgängerbau an gleicher Stelle ersetzte. Er stellt im Strassenbild einen markanten Akzent dar; der Landsitz Richigen fällt zuerst mit seinem wuchtigen Ökonomiegebäude ins Auge.
Das Herrenhaus ist im Erdgeschoss mit Sandstein-Einfassungen gemauert und im Obergeschoss als verputzte Riegkonstruktion mit hölzernen Einfassungen aufgeführt. Die hin und wieder vertretene Idee, das Obergeschoss sei ein Sichtriegbau gewesen, ist falsch, wie die gefugten Stucklisenen beweisen. Es folgt dem Typus des quadratnahen, regelmässig befensterten Stocks unter stark ausladendem, mit Firstvasen geziertem Walmdach. Die Hoffassade ist als hölzerne, nach Steinvorbild gestaltete Laube dem Stock vorgeblendet, im Erdgeschoss als später eingewandete Säulenvorhalle, darüber als breite, noch im 18. Jahrhundert verglaste Korbbogen-Arkadenreihe. An den beiden Flanken stehen Peristylanbauten, nordseits um 1820 mit hölzerner Säule, südseits um 1850/60 aus sandsteinernen Säulen und Terrasse mit Gusseisengeländer vor dem Obergeschoss, anstelle einer älteren Anlage, wie die Ausgangstüre im Obergeschoss belegt.
Die Innenausstattung
Das Eingangsportal führt in den zur Gartenfassade durchlaufenden Mittelkorridor, der das Haus in zwei Kompartimente teilt, Salon und Esszimmer südseits, kleiner Salon, Küche und zweiläufige Treppe nordseits. Sie ist abgesehen vom erneuerten Belag kaum verändert aus der Bauzeit erhalten geblieben mit der für die Zeit um 1730 charakteristischen, Balustern nachempfundenen Schmiedeeisenbrüstung. Die zwei Salons wurden im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts neu ausgestattet. Der Salon erhielt ein Neurenaissance-Cheminée und eine Stuckdecke mit Neurokoko-Mittelmedaillon. Beibehalten wurde der sehr schöne, von Peter Gnehm signierte und 1759 datierte, blaubemalte Kachelofen mit den für diesen Maler charakteristischen Landschäftchen. Der kleine Salon erhielt eine Ausstattung mit halbhohem Neu-Louis XVI-Täfer und (ehemaliger roter) Tapete sowie eine reiche, kassettierte Stuckdecke. Der alte Kachelofen stammt von einem unbekannten Hafner, der Gnehm um 1770 imitierte und auch den doppelten Ofen im Obergeschoss schuf. Dort findet sich ebenfalls ein meergrüner Ofen mit schönen Frieskacheln, um 1730, und im Eckzimmer, das in der Mitte des 18. Jahrhunderts neu vertäfert worden ist, ein rötlich-brauner Jugendstil-Kachelofen aus der Zeit um 1900. Die ehemals klimatrennende Eichentüre auf die gegen Osten gerichtete Laube ist ein prächtiges, gefeldertes und mit Wulstprofilen versehenes Schreinerwerk von guter Qualität mit schönen, verzinnten Beschlägen. Vom selben Schreiner stammt die Wulstprofildecke der Laube selbst. Beide Holzarbeiten lassen sich ins dritte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts datieren. Im Esszimmer wurde um 1910 ein grüner Kachelofen aufgerichtet. Das schöne, auf eine Säule abgestützte Küchenkamin dagegen stammt aus der Bauzeit.
Repräsentativ und intim zugleich
Vor der Westfassade erstreckt sich die breite Terrasse mit Geländern aus der Zeit um 1820, von der axial die Treppe zum Gartengeviert mit kreuzförmigem Wegsystem und Springbrunnen führt. Der Gemüsegarten (Potager) ist davon mit einer schönen Sandsteinmauer aus dem 18. Jahrhundert abgetrennt und heute ein prächtiger Blumengarten.
Die «Campagne» Richigen ist ein etwas verstecktes Herrenhaus, wirkungsvoll eingefasst von den rahmenden Ökonomiebauten und eingebettet in die gestuften Gartenterrassen. Seine Lage, die zweifellos um 1730 auch im Hinblick auf die Aussicht sorgfältig ausgewählt wurde, verschafft dem Haus private Zurückgezogenheit, die zu seinem Charme beiträgt. Die Qualität des architektonischen Entwurfs und die um 1820 geschaffene Gesamtanlage machen die Hälfte seines Werts aus, die andere Hälfte beruht in der ungewöhnlich vielfältigen festen Ausstattung von 1730 bis ins frühe 20. Jahrhundert. Das überaus wohnliche Haus ist bestens gepflegt und geschmackvoll eingerichtet, den Eigentümern sei Dank! Jürg Schweizer
Die Eigentümer des «von-Wattenwyl-Gutes»
– Beat Rudolf Fischer (1733–1798), verkauft 1770 an
– Albrecht Emanuel Meley (1731–1815), vermacht es
– Niklaus Albrecht Stettler (1795–1836), Enkel und Patenkind, nach dessen frühem Tod fällt es zurück an dessen gleichnamigen Vater
– Niklaus Albrecht Stettler, der es noch 1836 verkauft an seinen Schwiegersohn
– Gottlieb Emanuel v. Wattenwyl (1788–1861), nach dessen Tod an seine Witwe, dann 1877 an deren Enkelin
– Anna Maria May, verheiratet mit Eduard Friedrich Ludwig v. Wattenwyl (1847–1895). Nach dessen Tod 1895 Verkauf an
– Emanuel Ludwig Eduard von Wattenwyl (1873–1902), Verkauf an
– August v. Roeder-Hentsch aus Berlin und Gerzensee. Dessen Erben verkaufen 1929 an
– Hans Albert v. Wattenwyl, dieser verkauft 1934 an
– Jules Albert René Dollfus v. Volckersberg (1906–1985), nach dessen Tod 1986 Kauf durch die heutigen Eigentümer.