«Trotzdem bin ich Pfarrerin geworden. Ein Medizin-, ein Math- oder ein Wirtschaftsstudium wären jederzeit dringelegen, aber ich wollte mich mit etwas befassen, das nicht nur Richtig-Falsch-Antworten gibt. Etwas, das vielleicht nicht so ergebnisorientiert ausgerichtet ist, selbst wenn eine Sonntagspredigt durchaus nachwirken darf. Deshalb entschied ich mich gleich für das Theologiestudium, ich hätte es später sowieso nachgeholt.
Mich interessieren Religiosität und die kirchlichen Zeremonien dahinter. Einem Taufkind schenkte ich mal ein Ässmänteli, weil es sich während dem vorgängigen Taufgespräch über und über mit Rüeblibrei verschmiert hatte. ‹Du darfst auch kleckern in Deinem Leben›, war meine Botschaft hinter meinem kleinen Präsent. Nicht alles gelingt im Leben auf Anhieb, Fehler gehören dazu.
Am glücklichsten macht mich jedoch keine einzelne Taufe oder Predigt oder Trauung, sondern das Spannungsfeld untereinander. Eine Beerdigung am Mittwochnachmittag gerät bei mir am besten, wenn ich zwei Tage vorher mit einem Haufen Kindern zu tun hatte. Kürzlich hatte ich an einem Sonntag einen Gottesdienst mit Beteiligung von 25 Kindern, dazu zwei Taufen und zuletzt ein Abendmahl. I liebe di ganz grosse Chischtene!
Ein Thema, das mich besonders interessiert: die menschliche Würde. Oft wird sie abhängig gemacht von den Leistungs- und den Konsummöglichkeiten, welche ein Mensch erbringt. Die christliche und vor allem auch biblische Sicht tritt dem entgegen, sie ist unabhängig von allen Leistungsfähigkeiten eines Menschen. Dies bedeutet: Ich muss nicht zunächst Gott mit meinem Verhalten gefallen, damit er mich bejaht. Das Motto heisst: ‹Du bist gut, so wie du bist.› Dieses Thema und die Konsequenzen im Umgang miteinander spitzen sich vor allem am Lebensende zu. Beinahe täglich höre ich von Menschen, dass sie nur noch zur Last fallen und zu nichts mehr nützlich sind. In einem weiteren Schritt folgt dann oft die Aussage, sie wollen möglichst bald sterben. Damit verbunden sind die Fragen ganz am Ende des Lebens, die letzten Fragen. Was ist ein würdiges Lebensende? Kann es überhaupt ein unwürdiges Sterben geben? Wie möchte ich Abschied nehmen?
Ich glaube an Gott. Und das Gottesbild darf sich mit den Jahren wandeln, ich selber sehe Gott als übergeordnete Macht, die für mich ansprechbar ist und die Auswirkungen auf mein Leben hat. Gottes Nähe spüre ich oft draussen, auf ausgedehnten Wanderungen oder im Winter beim Skifahren. Es geht mir nicht darum zu definieren, was geglaubt werden muss. Im Gegenteil! Ich möchte vielmehr auf Glaubens- und Lebenswegen begleiten. Ich begleite Kinder beim Entdecken von biblischen Geschichten, Konfirmanden in ihren hormonellen Sturm-und-Drang-Phasen, Ehepaare in Scheidungszeiten, die Witwe, wenn sie ihren Mann verloren hat. Überall kommt das Seelsorgerische zum Zug.
An Gott glauben schliesst für mich mit ein, dass man mit ihm auch hadern darf. Zweifel können ein wichtiges Korrektiv zu einem naiven Glauben sein. Warum lässt Gott zu, dass es so viele Konflikte, dermassen extreme Armut oder überbordender Reichtum gibt? Wenn ich diese Frage höre, stelle ich ihr die Frage entgegen: Warum lassen es Menschen zu? Ich glaube an einen Gott, der uns einen eigenen Willen und die Fähigkeit gab, zu handeln.
Warum es Krieg gibt, ist eine Frage, die mehr von Erwachsenen kommt. Jugendliche, denen ich begegne, stellen Fragen rund um ihre Identität: Wer will ich sein? Gehöre ich dazu? Auch ökologische Fragen kommen mir immer wie mehr entgegen, mit einer grossen Differenziertheit. Das Zusammensein mit jungen Erwachsenen ist gefüllt mit Sinn für das Gemeinschaftliche. Wir reisen nach Bern, um Institutionen zu besuchen, die von der Kirche unterstützt werden, wir besuchen die Gassenarbeit oder die Passantenhilfe. KUW ist Beziehungsarbeit.
Um Gott zu beschreiben, benütze ich bei kleineren Kindern Symbole wie eine Sonne, ein Herz, ein Baum, eine Wasserquelle oder ein Haus. Das Haus reduzieren sie dann oft auf die Kirche und ich habe die Aufgabe, sie auf Umfassenderes hinzuweisen. Meine eigenen Gotteserfahrungen mache ich am meisten bei uns daheim, im Stall. Dort finden archaische Begegnungen mit Leben und Tod statt, mit Wachsen und Vergehen. Nicht nur als Theologin, sondern auch als gelernte Bäuerin sage ich: Der Stall tuet bödele. Viele Kinder sprechen beim Thema ‹Gott› sehr gut auf ein Bild von einem lodernden Feuer an, was auch gut zu Erwachsenen passt, die eine Verbindung zum Göttlichen in einem Kerzenlicht sehen.
Gott ist für mich mit von der Partie, wenn Kinder miteinander Fussball spielen, wenn viel Jubel und Trubel herrscht. Göttliches ist für mich ebenso bei vertraulichen Gesprächen spürbar, wenn leisere Momente ins Spiel kommen. Während den Corona-Zeiten verlegte ich Gespräche und Besuche oft ins Freie und machte mit den Menschen einen Spaziergang. Da wurde mir deutlich, wie wichtig die Pausen sind. Ich habe an Gesprächen teilgenommen, wo die Pausen wichtiger waren als das Gesagte. Eine Theologie der Pause: Däm müesst me mau no nachegah.»
Aufgezeichnet von
Bernhard Engler