Vis-à-vis
Dieses Vis-à-vis führt mich zu Jacqueline Maire, einer Powerfrau, die mitten im Leben steht und vollgepackt ist mit guten Ideen und viel Energie. Ich werde herzlich willkommen geheissen in einem bunten, künstlerischen Zuhause. Auf dem Tisch stehen frische Gipfeli und ich bekomme einen feinen Kaffee. Helene, eine der Töchter von Jacqueline, ist auch da und auch ihr Hund Captain «Chäppu» fehlt nicht.
Ich bin in der Nähe von Worb aufgewachsen und war schon als Kind oft hier unterwegs. Viele Nachmittage habe ich in der Worber Badi oder im Winter auf dem Eisfeld verbracht. Auch meine Hobbys habe ich in Worb ausgeübt: Musikunterricht und Kunstturnen.
Ich zeichne schon mein Leben lang, zumindest, soweit ich mich zurückerinnern kann. Mit etwa 8 Jahren bin ich zum ersten Mal mit Hard Rock in Berührung gekommen.
Manchmal denke ich, ich sei mit einem Ball am Fuss geboren. Sit ig cha dänke, dribbli dür z Läbe. In manchen Lebensphasen habe ich mir den Ball weit vorgelegt, dann wieder enger am Fuss geführt.
Mein Nachname ist italienisch, genauso wie meine ersten drei Lebensjahre auf unserer spannenden Erde. Dann zogen meine Eltern in die Schweiz, unter anderem mit mir im Schlepptau. Seither wurde die Schweiz vom neuen Zuhause auch zu meiner Heimat. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich in Münsingen verbracht. Ganze 44 Jahre lang habe ich dort gelebt, gearbeitet und gewirkt. Ein Stück Heimat wird Münsingen für mich immer bleiben. Aber jetzt bin ich glückliche Worberin.
Vor beinahe 50 Jahren zog ich mit meiner Frau nach Brasilien, wo ich fünf Jahre an einer Schweizer Schule unterrichtete. Früh kauften wir uns ein Camper-Bössli, um das Land zu erkunden.
«Seite an Seite mit Vierbeinern, Federkleidern und Schuppenhaut, von Kindesbeinen bis jetzt und weiter. Im Kindergarten sah ich einst eine verletzte Biene, die auf dem Rücken lag und mit den Flügeln zappelte. Ich wollte sie umdrehen – und wurde gestochen. Das hat meiner Tierliebe jedoch keinen Riegel vorgeschoben.
Vor vier Jahren, bin ich von Fulda bei Frankfurt nach Aeschi gezogen. Ich hatte mich parallel in Deutschland und in der Schweiz auf neue Jobs beworben – und dann tatsächlich eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch in Bern erhalten.
Der ehemalige Chefredaktor Martin Christen fragte mich vor über 10 Jahren an, ob ich bei der Worber Post mitschreiben möchte. Ich sagte, ja, aber nur, wenn ich etwas machen kann, das mir liegt und frei von der Hand kommt. Es sollte nichts mit Politik zu tun haben. Ich lese gerne über Politik, aber ich möchte nicht darüber schreiben. Stattdessen wollte ich mich den Menschen zuwenden, die mir aus ihrem persönlichen Leben erzählen, immer zu einem speziellen Schwerpunkt.
«Die Tradition der Weihnachtsgeschenke ist in unserer Familie nicht mehr dermassen vorhanden, der Druck ist weg, aber Spontankäufe liegen immer drin. Ich laufe lieber durchs Jahr hindurch an etwas heran und denke ‹ou, das wär doch öppis füre …›.
«I bi nid so e Wintermönsch. Wir gingen als Familie zwar immer skifahren, haben zwischendurch gschlööflet, aber beides ist nicht so meins. Gerne würde ich einen Winterschlaf von O bis O machen, von Oktober bis Ostern.
Am wichtigsten ist, der Runde etwas zu bieten – zeitlich und thematisch gesehen. Im Altersheim Worb gibt es zwei Nostalgiegruppen, eine einzige wäre zu gross und man hätte zu wenig Zeit für jedes Einzelne. Und bei unseren Gesprächen, wo es um einen Rückblick auf Vergangenes geht, sollen Themen im Zentrum stehen, die alle interessieren und wo eine gute Stimmung aufkommt.
«Ich selber habe zwei Piercings am linken Ohr. Wars das? Das wars und es bleibt dabei. Im Piercing-Studio arbeite ich seit zwölf Jahren, es ist meine hauptberufliche Tätigkeit. Ich studierte Germanistik, arbeitete parallel dazu in Museen, an Kassen – Studentenjobs halt. Als Deutschlehrerin wartet die Welt nicht auf mich, sagte ich mir nach dem Studium, doch wie finanziere ich mein Leben?
Ich empfinde mich als relativ langweilig – für andere Leute. Mein Klassenzimmer am ersten Schultag nach den Sommerferien sah allerdings überhaupt nicht langweilig aus, ich hatte das Zimmer vorher schön eingerichtet. Auf die Wandtafel zeichnete ich ein Piratenschiff, weil wir später mit dem Lehrmittel ‹Die Wortartenpiraten› arbeiteten.
Vor drei Wochen hatten wir Diplomfeier. Als frisch ausgebildeter Bio-Landwirt durfte ich das Fachzertifikat mit der Abschlussnote 5,3 entgegennehmen – tiptop. Für die Feier musste ich noch etwas Alphorn üben. Ich hatte mit dem Instrument noch nie zu tun, spiele aber seit Jahren Posaune, weshalb ich mit der ähnlichen Atem- und Blastechnik vertraut bin, bereits das Mundstück passte bestens auf das Alphorn.
Als Wegmeister in Worb spiele ich in Haupt- und Nebenrollen. Letztere dann, wenn Strassenbauer, Landschaftsgärtner oder der Strassenmeister – mein Chef im Werkhof – wichtig sind. Bin ich allein mit der Kehrmaschine unterwegs, trage ich die Hauptrolle, säubere Strassen, lese tote Tiere auf, melde Ölspuren, leere volle Robidog-Kübel.
Wann ich mich zum letzten Mal so richtig jung fühlte? Ist nicht allzu lange her. Es war der Anlass, als ich bei der letzten Klassenzusammenkunft unter uns Gleichaltrigen sass und von links und rechts immer wieder Geklöhn hörte, die Geschichten von Bräschten und Dingen, die einem missfallen. Da merkte ich: Ich bin noch immer voller Tatendrang!
«Ich schreibe Mundartgeschichten, wahre und schöne Geschichten von früher, die erfreuen und einem nicht die Probleme servieren, denen wir täglich bereits durch die Medien ausgesetzt sind. Zuletzt las ich im Altersheim Beitenwil, de Lüt hets fei e chly gfalle, sie klatschten sehr. Jemand sagte mir später: Uh, mir hei de i der Nacht drufabe guet gschlafe.
«Wir lebten in der damaligen Tschechoslowakei ganz normal. Mein Vater – obwohl er studiert hatte und mehrere Sprachen beherrschte – arbeitete in einer Fabrik, was noch dem russischen Unterdrückungsapparat in den Ostblockstaaten geschuldet war. Die zunehmende politische Befreiung vom sowjetischen Regime war jedoch spürbar, mein Vater erkundigte durch ein paar Reisen bereits den Westen, und so verbrachten wir einen Urlaub auf einem Zeltplatz in der Nähe von Venedig. Dort erlebten wir den 21. August 1968.
«Mein E-Bike oder das Tram 6 bringt mich aus Bern in die vielfältige Welt von Worb und darüber hinaus. Worb liegt ungefähr in der Hälfte meines spannenden Arbeitswegs. Von Worb Dorf führt mein Weg steil nach Walkringen ins Rüttihubelbad hinauf. Diese Strecke ist bei fast jedem Wetter ein Genuss: Der Tag erwacht über den Berner Alpen und ich mit ihm.
«Letzten Sommer besuchte uns mein indischer Cousin mit seiner Frau, sie waren zum ersten Mal in Europa. Wir holten sie spät nachts mit dem Auto beim Bahnhof Worb SBB ab, fuhren zu uns nach Vielbringen. Am nächsten Morgen war mein Cousin völlig baff, dass rund um unser Haus noch andere Häuser waren. Er ging fest davon aus, dass wir völlig im ‹No man’s Land› lebten, da bei der Fahrt zu uns alles dunkel war, in den Wohnungen keine Lichter mehr brannten.
«Pünktlichkeit in Kuba ist so eine Sache. Hier ist eigentlich niemand pünktlich. Eine Stunde liegt bei mir im Toleranzbereich, allerdings gibt es Termine, wo ich den Leuten sage: ‹Ihr müsst wirklich pünktlich da sein.›
«Ich, damals als Oberstufenschüler? Sehr motiviert war ich, eher brav, für Lehrpersonen umgänglich. Recht mustergültig. Ich verstand meine Lehrer von ihren Entscheidungen her, ging mit einer positiven Stimmung in die Schule.
«Die meistgestellte Frage an mich heisst: ‹Was wosch mit däm ganze Züg?›. Meine Geschichte übers Knochen-Sammeln begann in der Kinderzeit, draussen im Wald, wo ich mit dem Vater Pilze sammelte.
«Im Gymnasium liegt es an mir selbst, ganzheitliche Verbindungen zu machen. Denn der Unterricht ist dort klar auf einzelne Fächer aufgeteilt, mit einem bestimmten Lehrer dazu.
«Ein Bowlingabend ist zwar lustig und die Kugeln sind leichter, aber die Technik liegt mir nicht. Mir gingen die drei Löcher gegen den Strich, mit meinen kurzen Fingern kommt mir dort das Abwerfen wie nicht von der Hand.
«Meine Jugendzeit: Man freute sich auf den 1. August, wir liessen Schweizerchracher los, für Feuerwerk gab es diverse kleine Läden.
«Seit dem 5. Juni findet man uns auf der Urdenalp bei Tschiertschen, im Graubünden. Für diese Zeit haben wir in Vielbringen einen Untermieter gefunden, Anfang Oktober kehren wir dann zurück.
«Kürzlich war ich an einem Urologinnenkongress, es ging unter anderem darum, dass Frauen vermehrt in Entscheidungsgremien kommen, ohne dass emanzipatorische Auseinandersetzungen in den Vordergrund rücken.
«Ich spiele nicht oft Lotto. Aber die Postillon-Beiz bzw. den Pöschtu, wie man in Rüfenacht sagt und wo ich kürzlich einen Lottopreis gewann, war bereits in meiner Jugendzeit eine Anlaufstelle.
«In Worb bin ich die ganze Zeit nicht am Handy, sondern in Handys. Ich repariere sie in meinem Laden an der Bahnhofstrasse und es ist tatsächlich so, dass viele Anrufer am Telefon zuerst fragen: ‹Gäll, Du bisch der Handy-Doktor vo Worb?›.
«Alt-Landwirt? Gottfriedstutz, sage ich mir manchmal, bald werde ich siebzig. So schnell ging es. Gehts auch so schnell weiter?
«Ich dürfte eigentlich nichts mehr kaufen. Trotzdem klopfe ich einmal pro Woche die Berner Brockenhäuser ab, und wenn mein Mann und ich in unserem Ferienhaus in der Provence sind, besuche ich regelmässig die marchés aux puces der Umgebung. Zusätzlich arbeite ich in der Worber Brocki des Frauenvereins.
«E Boum richtig gärn ha? Uf all Fäll! Von daher kann ich sofort verstehen, wenn Menschen Bäume umarmen. Was für einen Weihnachtsbaum wir bei uns in der Stube haben – das muss ich noch überlegen. So oder so: Irgend e Tanneboum muess häre.
«Als Zuschauer bin ich für viele Filme offen, im Worber Kino sehe ich mir am liebsten die Nischenfilme an. Dabei kommt mir keine déformation professionnelle in die Quere, ich achte in der Regel nicht speziell auf den Ton. Die Zuschauer achten meist erst dann auf den Ton, wenn damit etwas nicht stimmt.
«Eine altgediente Lehrerin hat mal bemerkt, dass Studierende an der Pädagogischen Hochschule viel theoretischen Ballast lernen, aufgeblasene Arbeiten schreiben und in der Praxis nicht mal in der Lage wären, ein simples Schulreisli zu organisieren.
«Privat bin ich oft mit unserem Hund unterwegs, bewege mich zudem bei Gartenarbeiten, gehe auf die Jagd oder in die Berge wandern. Beruflich bin ich Braumeister bei Egger in Worb, einen Bierbauch habe ich übrigens nicht. Und meine Kollegen? Weniger als me dänkt.
«I bi ke Hiesigi. Ich komme aus Birsfelden, aber auch bei meinem Schwiegervater, der ein Stadtberner ist, hiess es am Anfang, man werde ihn im Dorf nie als ‹richtigen› Einheimischen betrachten. Nun denn, über fünfzig Jahre lang war es ihm in Vielbringen wohl, und unsere eigene Familie lebte bereits fünf Jahre dort. Früher ganz zuvorderst beim Schulhaus, danach zogen wir nach Rüfenacht, um jetzt definitiv ins Dorf zurückzukehren.
«Mein Gwunder für Historisches ist mit einem Kardinal-Erlebnis verbunden. Auf einer frühen Reise durchs Monument Valley durfte ich einer Versammlung eines Indianerstammes beiwohnen, ein Pendant zu unserer Gemeindeversammlung.
Bi üs geit e Jodler furt, wär das nüt für Di?›. Nach dieser Frage ging ich 1981 an eine Probe des Jodlerklubs Frohsinn in Heistrich, das Vorsingen beim Dirigenten fand eine Stunde vor einer Probe statt. Ich hatte einen Kopf wie eine überreife Tomate, dermassen peinlich war mir dieser Test. Aber alles ging gut und ich hielt dem Klub bis heute die Treue, als Worberin und jetzt als Enggisteinerin – und auch als Frau. Denn damals fragten sich einige Männer schon, ob das wohl gut käme mit mir – mein Beitritt ‹het z rede gäh›, und ich vernahm dies natürlich.
«Ich gebe gern Interviews. Eines davon gab ich dem Nidwaldner Blitz – wir wohnten bis im letzten Sommer in Obwalden. Und meiner ehemaligen Schulklasse durfte ich mal erzählen, wie es zu meiner Sportkarriere gekommen ist, was sie alles erfordert.
«I wär no nie nach Bärn i Usgang gange. Bei mir gehts immer i ds Chrut, an eine Chilbi oder an ein Barfest. Oft hört man die Musik von DJ REF JD im Hintergrund. Mit der Musik ist es auf dem Land manchmal witzig. Zuerst ertönt Jodelmusik, und nach ein paar Takten gehts voll mit Techno weiter. Ich war bisher an keinem Anlass, ohne dass ich Schwinger-Kollegen angetroffen hätte. Aber in den Ausgang gehen vor einem Schwingfest, das mache ich wiederum nicht.
«Neben dem Schachspiel fröhne ich auch dem Schiesssport. Wenn man mir eine Pistole auf die Brust setzt, mit der Frage, ob ich lieber Schach spiele oder schiesse, würde ich trotzdem Schach sagen. Vielleicht hätte ich mit dieser Antwort Pech gehabt, umgekehrt womöglich auch. Schiessen und Schach spielen – die meisten meinen, das wäre ein Gegensatz. Aber sie haben eine grosse gemeinsame Komponente, und die heisst Konzentration. Wenn du dich nicht konzentrieren kannst: Chasch ds gschitschte Hirni ha – es nützt nüt.
«Vor vierzig Jahren wurde mir meine kleine Trompete gestohlen, sie tauchte nie wieder auf. Mit meinem Sohn, einem gelernten Instrumentenbauer, bauten wir in vielen Stunden mein neues Kornett. Das Kornett gilt als kleinste Trompete der Welt, mein Instrument ist nur 17 cm lang.
«Ich bin Deutsche und heisse Schweizer. Als ich meinen Mann heiratete, dachte ich: Wenn schon, dann mache ich es gleich richtig. Für
«Trotzdem bin ich Pfarrerin geworden. Ein Medizin-, ein Math- oder ein Wirtschaftsstudium wären jederzeit dringelegen, aber ich wollte mich mit etwas befassen,
«Zum Musikspielen wurde ich als Kind nicht gedrängt, es ergab sich von selbst. Den Besuch des Musikunterrichts begann ich ungefähr in der
«Ob das Bild stimmt, dass Architekten gern mit schwarzen Rollkragen-Pullovern rumlaufen? Selbstverständlich. Schwarz gekleidet, das habe sogar ich als Archtektin so gehandhabt.
«Falls Sie mich im Titel als Ex-Brigadier*in bezeichnen, können Sie alleine weitermachen. Ich habe auch schon das Wort ‹Brigadeuse› gelesen, so analog
«Als Schüler war ich ein enfant terrible, ein agent provocateur. Die Lehrer brachte ich zur Weissglut, auf meiner ewigen Suche nach Grenzen.